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Technikgeschichte

Wegweiser in die Zukunft

27. Oktober 2022

Computer, Motoren, Elektrizität: Ohne Technik wäre unsere Leben nicht denkbar. Das Buch „Die Welt der Technik in 100 Objekten“ zeigt anschaulich, wie Erfindungen und Entdeckungen menschliche Gesellschaft geprägt und verändert haben. Warum Erfinder*innen Kreativität benötigen und was wir von der Natur über Kreislauf-Wirtschaft lernen können, erzählt der Mitautor und Herausgeber Wolfgang M. Heckl, Generaldirektor des Deutschen Museums, im #explore-Interview.

 

#explore: Herr Prof. Heckl, Sie erklären in Ihrem Buch die komplexe Welt der Technik anhand von 100 Objekten. Anhand welcher Kriterien und Ziele haben Sie diese ausgewählt?

Es mussten Exponate des Deutschen Museums sein, die gesellschaftlich in der ein oder anderen Weise relevant geworden sind. Außerdem wollten wir über und um die Exponate Geschichten und Geschichte erzählen: Wer hat es warum erfunden, was hat zu der Erfindung geführt, für welche Zeit wurde es geschaffen, und wie hat es die Gesellschaft beeinflusst und verändert?

Das Spektrum reicht von einem Multifunktionszirkel aus dem 16. Jahrhundert über frühe Rechenmaschinen, den Benz Patent-Motorwagen Nummer 1 bis zum mRNA-Reaktor von BioNTech, in dem die erste Charge des Covid-19-Impfstoffs produziert wurde.

 

Wie hat sich seit der Gründung des Deutschen Museums 1903 das Verhältnis zu Technik geändert?

Unsere Sicht auf Technik hat sich seither in vielfältiger Weise verändert. Gegen die Aufbruchsstimmung und den Technikoptimismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts sind immer mehr auch die dystopischen Aspekte von Technik in den Blick gerückt. Entsprechend erzählen wir im Buch nicht nur vom Erfindergeist, der die Menschheit vorangebracht hat, sondern auch von den Schattenseiten des Fortschritts. Den Experimentiertisch etwa, an dem Otto Hahn zusammen mit Fritz Straßmann und Lise Meitner 1938 die Kernspaltung entdeckt hat, muss man natürlich heute mit seinen ganzen Folgen bis hin zu den Atomwaffen beleuchten.

Was sich dabei seit unserem Gründer Oskar von Miller nicht verändert hat: Als Deutsches Museum arbeiten wir immer an der Schnittstelle zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Das ist auch ein zentrales Kriterium für die Auswahl von Exponaten für das Museum im Allgemeinen und im Besonderen für dieses Buch: Wie weit weist die jeweilige Erfindung über ihre Gegenwart hinaus in eine mögliche Zukunft? Etwa das Rastertunnelmikroskop, das mein Postdoc-Vater Gerd Binnig erfunden hat.

In dem Artikel dazu versuche ich nicht zuletzt das Staunen darüber spürbar zu machen, dass man zum ersten Mal die Welt der Atome sichtbar machen kann. Ein Paradigmenwechsel, der zur Nanotechnologie mit ihren praktischen Anwendungen geführt hat.

 

Brauchen wir Technologien, um den Problemen zu begegnen, die wir durch Technik erst erzeugt haben?

Diese These ließe sich natürlich durch zahlreiche Beispiele belegen. Andererseits: Wo stünden wir als Gesellschaft ohne Technik? Dass unsere Kinder nicht nach der Geburt sterben und wir alle länger leben, verdanken wir technologischen und medizinischen Entwicklungen. Erdöl ist die Basis vieler Medikamente. Auch Dampfmaschine und Verbrennungsmotor haben die Menschheit einen großen Schritt vorangebracht: Der Traktor hat die Arbeit und das Leben von Landwirtinnen und Landwirten erheblich erleichtert. Zugleich wissen wir mittlerweile um die problematischen Seiten der industriellen Landwirtschaft. Aber ohne diese Agrarwirtschaft können wir diese acht Milliarden Menschen auf der Erde niemals ernähren. Technik hat immer zwei Seiten. Dazu gehören auch Fehlentwicklungen und Konsequenzen, die erst durch neue Erkenntnisse sichtbar werden. Anfang des 20. Jahrhunderts hat niemand daran gedacht, dass das Öl in der Erdkruste endlich ist. Oder zu welchen Klimafolgen seine Verbrennung führt. Heute wissen wir: Wir müssen umsteuern, wir müssen die Dekarbonisierung auf den Weg bringen. Dazu brauchen wir Erfinderinnen und Erfinder. Und dieses Buch soll gerade auch junge Menschen anregen, sich in diesen Feldern zu versuchen und einzubringen.

 

Was müssen Erfinderinnen und Erfinder mitbringen, was treibt sie an?

Das ist zunächst die Neugier: gleichsam einen Bauplan für eine Idee entwerfen, um diese praktisch umzusetzen. Das ist die Leidenschaft: sich mit etwas zu beschäftigen, bis man es versteht und bis es klappt. Und es ist immer auch die Kreativität. Das verbindet die Kunst mit der Technik: Ich muss Dinge denken, die noch niemand zuvor gedacht hat. Und dafür muss ich kreativ sein. Kleine Kinder erfinden ständig Dinge. Und dieser Erfindergeist wird ihnen oft durch ein allzu reguliertes Schulsystem genommen und ausgetrieben – weil nicht der kreative, sondern der vorgegebene Lösungsweg zählt. Nicht zuletzt brauchen Erfinderinnen und Erfinder Offenheit bei ihren Versuchen und Experimenten. „Serendipity“ ist der schöne englische Begriff für das, was da geschieht: „when chance meets an open mind“. Wenn man etwas sieht, das einem ungewöhnlich vorkommt, kann man auf zwei Weisen damit umgehen. Man kann sagen: „Das ist völlig unverständlich, das Experiment ist gescheitert, ich beschäftige mich nicht weiter damit.“ Oder man sagt: „Dem will ich nachgehen, möglicherweise liegt darin der Schlüssel für eine neue Erkenntnis.“ Diese Vorgehensweise hat schon zu vielen Nobelpreisen geführt.

 

Welche Objekte des Buches stehen für Sie für den Ausblick in die Zukunft der Technik und damit auch der Menschheit?

Das sind für mich die Umhängetaschen, die eine Kooperative philippinischer Frauen aus weggeworfenen Safttüten hergestellt hat. Sie zeigen: Technischer Fortschritt vollzieht sich auch jenseits der Großindustrie und des patentbewährten Erfindertums. Er kann auch in Kooperativen entstehen, die mit kreativen Ansätzen der Wegwerfgesellschaft entgegensteuern. Diese Taschen geben eine Antwort auf eine der größten und drängendsten Fragen unserer Zeit: wie wir in Zukunft in Kreisläufen wirtschaften können – durch Reparieren, Wiederverwenden, Recyceln. Anders wird es nicht gehen, denn wir haben nur diese eine Erde. Die Natur ist hier das beste Beispiel und Vorbild: In ihren Stoffkreisläufen geht nichts ungenutzt verloren. Sie lässt Pflanzen aus Kohlenstoff, Wasser und Spurenelementen entstehen. Und zerlegt sie am Ende ihres Lebenszyklus wieder in ihre molekularen Bestandteile, die so neu zur Verfügung stehen. In diesem Sinne müssen wir künftig molekulares Recycling betreiben, um etwa Plastikabfälle in ihre molekulare Form zurückzuführen und als Ausgangsmaterial für neue Kunststoffmaterialien zu nutzen. Diese Safttütentaschen sind ein Symbol für diesen Kreislaufgedanken. Und dafür, dass in solchen Graswurzelbewegungen vielleicht auch die Rettung der Menschheit liegt.

 

Zur Person

Wolfgang M. Heckl ist Generaldirektor des Deutschen Museums und Inhaber des Oskar-von-Miller-Lehrstuhls für Wissenschaftskommunikation an der TU München. Der Experimentalphysiker ist Schüler des Nobelpreisträgers Gerd Binnig, Mitbegründer der Nanowissenschaften, und des Nobelpreisträgers Theodor Hänsch, einem der Pioniere auf dem Gebiet der optischen Physik und der Atomphysik.

Mehr zum Thema

Das Buch „Die Welt der Technik in 100 Objekten“, erschienen am 12. Mai 2022, porträtiert herausragende technische und wissenschaftliche Errungenschaften.

 

Entdeckt, erklärt, erzählt: Der Podcast von #explore