MENU
Gute Frage, nächste Frage

Warum sitzen wir so ungern neben Fremden?

25. April 2024

Ein Klassiker: Wir haben es uns alleine im Zweisitzer im ICE gemütlich gemacht. Da setzt sich jemand neben uns – und wir fühlen uns unwohl. Woran liegt es, dass wir auf die körperliche Nähe von Fremden eher unentspannt reagieren?

 

Die körperliche Nähe von Fremden macht konkreten Stress – das haben Forschende der Cornell University in den USA herausgefunden. Die Psychologinnen und Psychologen haben Berufspendelnde nach ihrem Befinden befragt und ihren Speichel auf Stresshormone getestet. Das Ergebnis: Wie dicht das Abteil insgesamt besetzt war, das war gar nicht so wichtig. Der Stresspegel stieg vor allem dann, wenn eine fremde Person neben den Reisenden saß. „Die Person auf dem Nachbarsitz dringt in die unsichtbare Sicherheitszone ein, die wir für unseren eigenen Körper beanspruchen“, erklärt Christian Müller vom Medizinisch-Psychologischen Institut des TÜV NORD in Köln.

In der Fachsprache heißt dieses persönliche Schutzgebiet peripersonaler Raum. Der soll uns vor Angriffen, körperlichen Verletzungen, aber wohl auch vor ansteckenden Krankheiten bewahren. „In diesem Schutzraum tolerieren wir Fremde nur, wenn es für die körperliche Nähe einen guten Grund gibt“, so Psychologe Müller. Beispiele für solche guten Gründe sind etwa eine medizinische Untersuchung, ein enger Aufzug oder eine überfüllte U-Bahn, in der alle unvermeidlich dicht an dicht stehen müssen. „Deshalb ist es auch ein ungeschriebenes Gesetz, sich nicht direkt neben eine fremde Person zu setzen, solange noch ein Zweiersitz frei ist“, erläutert Müller.

 

Von der Fluchtdistanz zur Proxemik

Der Schweizer Zoologe und Zoodirektor Heini Hediger hat diese Sicherheitszone bereits in den 1930er-Jahren erstmals beschrieben. Hediger entdeckte, dass etwa Zebras immer eine bestimmte Fluchtdistanz zu potenziellen Angreifern herstellen, aber auch zu Artgenossen einen Mindestabstand einhalten.

Der US-Anthropologe Edward T. Hall erkannte, dass sich der Homo sapiens ähnlich verhält. In den 1960er-Jahren entwickelte Hall daraus ein eigenes Fachgebiet: die Psychologie des menschlichen Raumverhaltens, kurz „Proxemik“. Demnach spiegelt sich die Vertrautheit zwischen zwei Menschen in ihrer körperlichen Nähe.

 

Unterschiede zwischen fremd und vertraut

Zu Fremden halten wir grundsätzlich einen größeren Sicherheitsabstand: Einen bis drei Meter brauchen wir, um uns wohlzufühlen. Zu weit, um sich berühren zu können, aber nah genug, um potenziell in Blickkontakt zu treten. Gute Bekannte dürfen sich uns auf Armeslänge nähern, Freundinnen und Freunde bis auf rund einen halben Meter an uns heranrücken. Alles darunter ist für engste Vertraute reserviert.

Dringen Objekte oder „unautorisierte“ Menschen in diese Schutzzonen ein, lösen bestimmte Nervenzellen ein Ausweich- oder Abwehrverhalten aus. Dafür sorgt ein System in unserem Gehirn, dass die Position von Gegenständen und Lebewesen unbewusst überwacht. Je dichter eine fremde Person an uns heranrückt, desto lauter lassen die Nervenzellen die Alarmglocken schrillen.

 

Stimmungsabhängige Schutzgebiete

Die Größe der unsichtbaren Sicherheitsblase um uns herum unterscheidet sich dabei von Person zu Person, ist jedoch ebenso abhängig von unserer Tagesform oder anderen Voraussetzungen. Zum Beispiel können Werkzeuge oder eine Prothese den Körper und damit auch den peripersonalen Raum erweitern.

Die Schutzzone wächst oder schrumpft zudem je nach Stimmung oder Umgebung. In unangenehmen oder beängstigenden Situationen nimmt der persönliche Schutzraum zu. Dieser Effekt kann sogar auftreten, wenn wir Ohrenzeuginnen beziehungsweise -zeugen eines aggressiven Gesprächs werden. Insgesamt wächst die Schutzzone, wenn wir uns verletzlich fühlen: etwa im letzten Drittel der Schwangerschaft, im Alter, aber auch wenn wir sehr müde oder erschöpft sind.

 

Invasive Alphamännchen

Männer mit einem höheren sozialen Status demonstrieren ihre Dominanz dagegen gerne damit, dass sie sich in den persönlichen Schutzraum anderer Menschen hineindrängen. Ein Phänomen, das sich etwa gut beim ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump beobachten lässt. Der neigte gegenüber anderen politischen Würdenträgern zu notorischem Schulterklopfen und zog beim Handshake für die Kameras die Hand des oder der anderen gerne zu sich, um sie anschließend erst nach einer gefühlten Ewigkeit wieder freizugeben.

Überhaupt hat unsere Persönlichkeit einen Einfluss auf unsere Komfortzone. Misstrauische Persönlichkeiten zum Beispiel brauchen einen größeren Mindestabstand, ebenso Menschen, die an einer Schizophrenie erkrankt sind: Sie können es überdies schlechter aushalten, wenn jemand ihre Grenzen überschreitet.

 

Härtetest ÖPNV

Besonders gut sichtbar werden solche Unterschiede im ÖPNV. „Wenn es zu eng wird, stellen die Leute auf andere Weise nonverbal Distanz her“, erläutert Christian Müller von TÜV NORD. Wir verschränken die Arme, drehen den Körper weg und vermeiden Augenkontakt. So signalisieren wir unterbewusst: Wir haben kein Interesse an sozialer Interaktion. „Für manche ist die Nähe sogar so schwer zu ertragen, dass sie lieber stehen bleiben“, sagt Psychologe Müller. „So können sie ausweichen, um den nötigen Mindestabstand wiederherzustellen.“

Eine Fahrt mit Bus oder Bahn bietet deshalb immer genug Material für eine psychologische Feldstudie. Der Vorschlag des Psychologen: „Wenn Sie in einer vollen Bahn sitzen, beobachten Sie – natürlich ganz diskret – die Körpersprache der Mitreisenden. Falls Ihnen selbst unbehaglich zumute ist, werden Sie feststellen: Damit sind Sie nicht allein.“

 

Entdeckt, erklärt, erzählt: Der Podcast von #explore