7. März 2024
Erdbeben sind verheerend – und schwer vorauszusagen. Wann und wo genau ein Beben stattfinden wird, das lässt sich trotz der Fortschritte in Seismologie und Datenverarbeitung kaum prognostizieren. Doch immer wieder berichten Menschen von Tieren, die sich vor Naturkatastrophen wie diesen auffällig verhalten. Haben Tiere tatsächlich einen „sechsten Sinn“ für Erdbeben, und können sie uns vor ihnen warnen?
Nervöse Wasserbüffel, Ameisen oder Vögel, die vor einem Erdbeben unruhig werden: Von Letzteren berichtete bereits der römische Naturforscher Plinius der Ältere beim Ausbruch des Vesuvs im Jahr 79 n. Chr. Aber auch in der Neuzeit kursieren immer wieder Anekdoten von Tieren, die sich vor Naturkatastrophen auffällig verhalten. 1975 soll die chinesische Metropole Haicheng auch deshalb rechtzeitig vor einem schweren Erdbeben evakuiert worden sein, da die Behörden aus dem merkwürdigen Verhalten von Schlangen die richtigen Schlüsse zogen. Wissenschaftlich ließen sich solche Beobachtungen lange Zeit kaum überprüfen, denn die Tiere müssten dazu vor und nach einer Katastrophe kontinuierlich beobachtet werden. Heutige Sensoren und aktuelle Methoden der Datenauswertung eröffnen hier mittlerweile neue Möglichkeiten.
Forschende vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Radolfzell haben auf diese Weise das Verhalten von Tieren in einer Erdbebenregion in den italienischen Abruzzen untersucht. Tierische Teilnehmende des Versuchs waren sechs Kühe, fünf Schafe und zwei Hunde, die sich allesamt bereits in der Vergangenheit bei Erdbeben auffällig verhalten haben sollen. Die Forschenden statteten die vierbeinigen Probanden mit Bewegungssensoren aus und zeichneten ihre Aktivitäten über mehrere Monate auf. In dieser Zeit meldeten die Behörden zahlreiche Erdstöße in der Region.
Kollektiver Ausnahmezustand
Die Auswertung des Tiertrackings ergab: Bis zu 20 Stunden vor einem Beben zeigten die Tiere auffällige Verhaltensmuster. „Je näher dabei das Epizentrum der bevorstehenden Erschütterung lag, desto früher änderten sie ihr Verhalten“, so Projektleiter Martin Wikelski. Deutlich wurden diese Verhaltensauffälligkeiten vor allem mit Blick auf die gesamte Gruppe. „Im Kollektiv scheinen die Tiere also Fähigkeiten zu zeigen, die auf individueller Ebene nicht so leicht zu erkennen sind“, erläutert Wikelski.
Was Hund, Schaf und Kuh dazu befähigt, ein nahendes Erdbeben zu „erspüren“, dazu können die Forschenden bislang nur Vermutungen anstellen: Möglicherweise riechen sie die Gase, die vor einem Beben vermehrt freigesetzt werden. Ein weiterer Erklärungsansatz: Wenn das Gestein vor einem Erdbeben stark unter Druck gerät, setzt es positiv geladene Sauerstoffionen frei, die dann nach oben steigen und die Luftchemie verändern. Denkbar wäre, dass die Tiere diese Ionisierung mit ihrem Fell wahrnehmen.
Erste Frühwarntiere im Einsatz
Wie aber ein animalisches Frühwarnsystem aussehen könnte, das haben die Forschenden bereits gezeigt: Ein Chip am Halsband der Tiere schickt alle drei Minuten Messdaten an einen Computer. Stellt dieser über mindestens 45 Minuten eine erhöhte Aktivität der Tiere fest, wird ein Alarm ausgelöst. Einmal sei das schon passiert, so die Forschenden. „Und tatsächlich: Drei Stunden später erschütterte ein kleines Beben die Region, dessen Epizentrum direkt unter dem Stall der Tiere lag“, berichtet Wikelski.
Auch Ziegen und Schafe am Vulkan Ätna auf Sizilien haben die Forschenden mit GPS-Peilsendern und Bewegungssensoren ausgerüstet. Und die Datenauswertungen hätten gezeigt: Bei allen sieben größeren Ausbrüchen in dieser Zeit seien die Tiere vorher in den nächsten Unterschlupf geflüchtet, so Wikelski.
Die gläserne Katze
Durchaus vielversprechende Ergebnisse also, aber natürlich längst nicht genug, um daraus fundierte Schlüsse zu ziehen. Um ihre Forschung auf eine breitere Datenbasis zu stellen und das Verfahren in ein systematisches Erdbeben-Frühwarnsystem zu verwandeln, wollen die Forschenden nun mehr Tiere über längere Zeiträume in verschiedenen Erdbebenzonen der Welt beobachten.
Dazu kooperieren sie seit 2023 mit einem österreichischen Start-up, das GPS-Tracker für Hunde und Katzen herstellt. Das Start-up wird entsprechende Algorithmen in die eigene Software integrieren, um die Verhaltensauffälligkeiten der vierbeinigen Hausfreunde erfassen zu können. Damit werden die Forschenden auf Daten von gut 600.000 Tieren weltweit zugreifen können. Und da Tiere von der DSGV ausgenommen sind, müssen sie diese vorab auch nicht um Erlaubnis fragen, um ihre Daten sammeln und verarbeiten zu können.
Tiermonitoring aus dem Orbit
Aber auch aus dem Weltall wollen die Forschenden um Martin Wikelski tierische Aktivitäten erfassen – gestützt auf das globale Tierbeobachtungssystem Icarus. Das operierte ursprünglich über eine Sende- und Empfangsanlage auf der Raumstation ISS. Doch mit dem Ukrainekrieg wurde die Partnerschaft der deutschen und russischen Raumfahrtbehörden eingestellt und die Datenübertragung beendet.
Um die Lücke zu schließen, hat das Icarus-Team daher im Sommer 2023 einen Minisatelliten ins All geschossen. Und aus der Not eine Tugend gemacht: Der kleine Satellit sei nicht nur leistungsfähiger als die Anlage auf der ISS, so die Forschenden. Zudem könne er anders als diese die Daten von mit Sendern ausgestatteten Vögeln, Fledermäusen, Meeresschildkröten und Landsäugetieren in jedem Winkel der Erde erfassen.
Läuft alles nach Plan, wird das Icarus-Projekt im Oktober 2024 wieder seinen Betrieb aufnehmen. In den kommenden Jahren sollen dann noch weitere Minisatelliten in den Orbit starten, um Daten nahezu in Echtzeit übertragen zu können: eine zentrale Voraussetzung für ein animalisches Frühwarnsystem. Bis sich sicher sagen lässt, ob Tiere uns systematisch vor Erdbeben warnen können, wollen also noch viele Daten erhoben und ausgewertet werden – und wir müssen uns alle noch etwas gedulden.