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Crashtest-Dummys

Lebensecht gegen die Wand

20. Oktober 2022

Um beurteilen zu können, wie es Fahrzeuginsassen oder Fußgänger:innen bei einem Unfall ergeht, halten Crashtest-Dummys für uns ihre Körper hin. Und die Dummys werden immer realistischer.

 

Der angekündigte Regen ist ausgeblieben. Nur ein paar Wolken stehen am blauen Himmel über der Crashtest-Anlage am Stadtrand von Münster. Die Zuschauer:innen sammeln sich hinter den sicheren Scheiben der verglasten Tribüne. Versuchsleiter Kai Schulte gibt das Signal. Dann rauscht der Rammwagen heran und prallt mit 60 Kilometern pro Stunde auf den blauen SUV, der quer auf der Strecke steht. Das Auto hebt mit den Rädern kurz vom Boden ab und fällt zurück auf den Asphalt. Die Beifahrerseite: massiv deformiert.

Hinter dem Steuer des Unfallwagens sitzt kein sensorübersäter Thor-Dummy, wie er heute bei Zulassungsprüfungen oder beim NCAP-Test zum Einsatz kommt. Die Unfallpuppe ist ein Biofidel-Dummy. Der heißt nicht etwa so, weil er Unfälle gut gelaunt über sich ergehen lässt. „Biofidel“ steht für eine möglichst naturgetreue Abbildung des Menschen, erklärt Mirko Dobberstein, Geschäftsführer des crashtest-service (CTS), der auf seinem Laptop am Kofferraum des Unfallwagens erste Daten auswertet.

 

 

Älterer Ansatz mit Zukunft

Die Idee zu dem Dummy kam dem Unfallforscher Michael Weyde vor gut 20 Jahren. Der Sachverständige ist für die Staatsanwaltschaften in Berlin die erste Anlaufstelle, wenn es um die Auswertung von Unfällen geht. Weyde untersuchte etwa 2016 den tödlichen Raserunfall auf dem Kurfürstendamm und den Anschlag am Breitscheidplatz im selben Jahr. Seine Analysen dienen den Gerichten als Grundlage für die Urteilsfindung. Fehlinterpretationen können für Beschuldigte oder Opfer gravierende Konsequenzen haben. Weyde stellte fest: Mit herkömmlichen Dummys lassen sich Unfälle mit Fußgänger:innen nicht wirklichkeitsnah rekonstruieren. Ihre Körper aus Stahl und Kunststoffen sind schlicht zu starr. Statt sich wie Menschen an den Stoßstangen die Knochen zu brechen, produzierten sie unrealistisch schwere Schäden an den Autos.

Also machte sich Weyde daran, den Standard-Dummy realitätsnäher auszulegen. Das Ziel: ein Dummy, der dem menschlichen Vorbild so nahe wie möglich kommt, auch im Bewegungsmuster. Einer, der also realistische Schäden an einem Fahrzeug erzeugt. Und an dem sich vor allem Verletzungen besser und direkter ablesen lassen statt vermittelt über Sensordaten. 2010 stellte Weyde seinen ersten eigenen Biofidel-Dummy vor. Mittlerweile wird der Dummy an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Dresden (HTW) unter Leitung von Professor Lars Hannawald weiterentwickelt und im Dummy-Labor von CTS in Münster gebaut.

 

Der Biofidel-Dummy soll seinem menschlichen Vorbild so nahe wie möglich kommen.

Künstliche Knochen, Sehnen und Weichteile

In den vergangenen Jahren ist hier einiges passiert. Nutzte Unfallforscher Weyde zunächst Holz als Knochenersatz, wird das Skelett der Dummys mittlerweile aus Epoxidharzen gegossen. „Sie haben dadurch eine ähnliche Bruchcharakteristik wie menschliche Knochen“, sagt Ingenieur Dobberstein. Wie das humanoide Vorbild haben die Dummys Gelenke, Sehnen und Bänder, die bei Belastung brechen oder reißen. Das Weichteilgewebe wie Muskeln oder Fett wird mit medizinischen Silikonen nachgebildet, wie Dobberstein erläutert. „Diese Materialien ähneln dem menschlichen Gewebe auch in den Hysterese-Eigenschaften.“ Sprich: Wie unsere Fettpolster verformen sie sich unter Druck – ein zentraler Grund dafür, warum sich die Biofidel-Dummys ähnlich bewegen wie Menschen, wenn sie von einem Fahrzeug erfasst werden –, während die Körper herkömmlicher Dummys einfach wegprallen. Auch die Biofidel-Dummys werden durch eine Hautschicht geschützt. Die besteht aus einer Neopren-Latex-Kombination und trägt wie die unsere bei einem Unfall Abschürfungen und Schnittverletzungen davon.

Nach dem Crashtest wird der Dummy wie ein Mensch obduziert. Er kann aber auch geröntgt werden. So muss die Haut der Unfallpuppe nicht bei jedem Crash zerschnitten werden. Aber vor allem können Unfallforschende die Röntgenbilder des Dummys direkt mit denen der realen Verletzten aus anderen untersuchten Verkehrsunfällen vergleichen.

Verletzungen auch von Fahrzeuginsassen beschränken sich natürlich nicht auf Schnittwunden oder Knochenbrüche. „Schon eine geringe Beschleunigung kann zur Gehirnerschütterung, einer Gehirnprellung bis hin zur Gehirnquetschung führen“, sagt Mirko Dobberstein. Daher werden auch die Biofidel-Dummys mit Sensoren ausgerüstet, die etwa Beschleunigung und Drehrate messen. „Auf Basis dieser Daten kann man dann entsprechend die Kopfverletzungskriterien bestimmen.“

 

 

 

Aufschneiden oder durchleuchten: Der Biofidel-Dummy kann obduziert oder geröntgt werden.

Die Knochen des Dummy werden aus Expoxidharzen gegossen und brechen ähnlich wie unsere.

Eine Frage der Vergleichbarkeit

Hier gleichen sich die Biofidel-Dummys technisch ihren sensorgespickten Kollegen an. Diese werden ihrerseits ebenfalls immer weiter verbessert. Der aktuelle Thor-Dummy hat gegenüber seinem Vorgänger etwa eine realistischere Wirbelsäule und deutlich mehr und empfindlichere Sensoren, deren Daten nun auch Rückschlüsse auf mögliche Gesichtsverletzungen zulassen. Vor allem liefern die Standard-Dummys vergleichbare und reproduzierbare Messdaten. Das macht sie aktuell alternativlos für Normprüfungen und um beim NCAP-Test die Sicherheit unterschiedlicher Fahrzeugmodelle vergleichen zu können. Ersetzen solle der Biofidel-Dummy seine Vorgänger in diesen Bereichen daher nicht, sagt Peter Schimmelpfennig, geschäftsführender Gesellschafter von CTS. Sie sollen aber dort ergänzen, wo die Standard-Dummys an ihre Grenzen stoßen.

Neben der Unfallanalytik für Gerichte oder Forschungseinrichtungen kommt der Biofidel-Dummy etwa als Übungsobjekt für Rettungsdienste und bei Sprengtests zum Einsatz. Er wird aber auch zur Rekonstruktion von Unfällen bei Achterbahnen oder anderen Freizeitparkgeräten genutzt. Beschussämter in Deutschland verwenden die anthropomorphe Unfallpuppe bei der Prüfung von Sonderschutzfahrzeugen – gepanzerte Limousinen, die etwa Politiker:innen als sicheres Fortbewegungsmittel dienen. Mit dem Dummy hinterm Steuer oder auf den Rücksitzen wird hier getestet, ob die Fahrzeuge ihre Insassen verlässlich vor Maschinengewehrfeuer, Granaten oder Minen schützen.

Doch der Dummy steht auch direkt unter Feuer – etwa bei der Prüfung von schusssicheren Westen. „Früher ging es nur darum, ob der Schuss durch die Weste dringt. Aber das hilft ja nichts, wenn man durch die Wucht des Projektils eine Rippenserienfraktur erleidet und an den Folgen verstirbt“, erläutert Peter Schimmelpfennig. Die Tests mit dem Biofidel-Dummy dienen entsprechend dazu, die Energieabsorption der Westen zu verbessern.

 

 

 

Zur Person

Peter Schimmelpfenning, geschäftsführender Gesellschafter von CTS.

Testpassagier für autonome Busse

Künftig könnte der Dummy auch in autonomen Bussen Kopf und Körper hinhalten. In denen sitzt man schließlich anders als in einem Pkw, auf die herkömmliche Dummys ausgelegt sind. Aber auch heute schon könnten ergänzende Tests mit den Biofidel-Dummys die Sicherheit von Fahrzeuginsassen weiter erhöhen, ist Peter Schimmelpfennig überzeugt: Standard-Dummys mit ihrer beschränkten Bewegungsfreiheit landeten bei Crashtests punktgenau auf dem Airbag. Das gehe oft an der Verkehrswirklichkeit vorbei, weil kaum jemand dabei exakt frontal gegen eine Wand fahre, so Schimmelpfennig. „In der Realität können wir beobachten, dass Insassen an den Frontairbags vorbeirutschen. Insofern sehe ich hier großes Potenzial, Airbagsysteme auf Basis von Tests mit dem Biofidel-Dummy weiter zu optimieren.“

Doch auch der Biofidel-Dummy selbst soll immer realistischer werden und mehr und mehr Aspekte und Funktionen des menschlichen Körpers abdecken. Innere Organe wären eine interessante Ergänzung, sagt Dobberstein. Brechende Knochen können schließlich Arterien verletzen – mit tödlichen Folgen. Vorerst seien künstliche Blutgefäße aber noch Zukunftsmusik. Auch eine aktive Muskulatur hat der Dummy noch nicht. Er verhält sich bislang wie ein bewusstloser Mensch. Für die meisten Testszenarien völlig ausreichend, sagt Benjamin Härtel, der den Dummy an der HTW Dresden maßgeblich mitentwickelt. Denn wenn man etwa mit 60 Kilometern pro Stunde gegen eine Mauer fährt, sind die Beschleunigungskräfte so groß, dass die Muskelspannung nicht ins Gewicht fällt. „Bei niedrigeren Kollisionsgeschwindigkeiten macht ein aktiver Muskeltonus besonders im Nacken aber einen Unterschied. Und daran wird geforscht“, so Härtel.

 

 

 

Familienzuwachs für den Mittelwert

In einem ersten Schritt könnte der Biofidel-Dummy zunächst Familienzuwachs bekommen. Mit seinen 1,78 Meter und 78 Kilo entspricht er dem 50-Perzentil-Mann: Er deckt 50 Prozent aller Männer in Europa ab und 30 Prozent der Frauen. Damit entspricht er dem Dummy-Typ, mit dem die meisten Norm- und NCAP-Crashtests gefahren werden. Besonders große Männer, sehr kleine Frauen und Kinder stellt er bisher nicht dar. Doch das soll sich ändern. Vor allem ein Kinder-Dummy steht bei den Entwickelnden weit oben auf der Liste. Dabei reiche es nicht, den großen Dummy einfach kleiner und leichter zu machen, sagt Mirko Dobberstein. Denn Kinder haben flexiblere und elastischere Knochen und eine andere Biomechanik: „Dementsprechend muss man einen ganz eigenen Dummy bauen.“

Bis es so weit ist, lässt es der anthropomorphe Testkörper abseits der Straße auch mal etwas ruhiger angehen – als Testschläfer für einen Matratzenhersteller. Biofidelität ist eben in vielen Bereichen gefragt.

 

 

 

Zur Person

CTS-Geschäftsführer Mirko Dobberstein wertet nach dem Crash erste Daten aus.

Entdeckt, erklärt, erzählt: Der Podcast von #explore