13. Juli 2023
Die Ära der Kernenergie in Deutschland ist zu Ende. Mitte April gingen mit Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2 die letzten deutschen Kernkraftwerke vom Netz. Bis das Gelände um und unter den Anlagen wieder völlig normaler Grund und Boden ist, werden aber noch viele Jahre vergehen. Dass der Rückbau sicher vonstattengeht, daran haben Detlef Beltz und seine Kolleginnen und Kollegen von TÜV NORD maßgeblich Anteil.
#explore: Herr Beltz, wie geht der Rückbau eines Kernkraftwerks vonstatten, und warum erfordert er so viel Zeit?
Detlef Beltz: Zunächst benötigt man für den Abbau eines Kernkraftwerks eine Genehmigung der zuständigen Behörde. Diese Anträge werden gemeinhin Jahre vor der Abschaltung gestellt und intensiv von TÜV-Sachverständigen im Auftrag der Genehmigungsbehörde geprüft: Wir schauen uns dabei an, ob der Abbau in der geplanten Form sicher durchführbar ist und der Strahlenschutz gewährleistet wird. Diese gründlichen Prüfungen sind unerlässlich, denn alle beim Rückbau möglicherweise auftretenden Szenarien müssen in der Planung berücksichtigt werden. Daher erfordert schon das Genehmigungsverfahren viel Zeit.
Wie geht es weiter, wenn die Genehmigung vorliegt?
Auch dann darf der Betreiber nicht einfach alles abreißen. Vielmehr muss er sich alle Maßnahmen in sogenannten Arbeitserlaubnisverfahren freigeben lassen. Alle wesentlichen Abbauarbeiten erfordern hier eine Einbindung der zuständigen Aufsichtsbehörde und der hinzugezogenen Sachverständigen – und das ist zum Beispiel TÜV NORD: Wir kontrollieren beispielsweise vor Ort, ob der Strahlenschutz gewährleistet ist und ob etwa die Krananlagen sicher und zuverlässig funktionieren. Auch schauen wir uns an, welche konkreten Werkzeuge und Methoden für welche Abbaumaßnahmen zum Einsatz kommen sollen. Wo liegen Vor- und Nachteile? Welches Verfahren gewährt möglichst kurze Aufenthaltszeiten der Arbeitenden in strahlenbelasteten Bereichen? Welches produziert weniger radioaktive Stäube, die Radioaktivität in andere Gebäudeteile transportieren könnten? Wie viele „Sägereste“ fallen bei der Arbeit etwa mit dem Plasmaschneider oder der Bandsäge an, die dann ihrerseits entsorgt werden müssen? Welche Methoden haben sich bereits als robust und verlässlich bewährt? Bei fernbedienten Zerlegeverfahren kann gegebenenfalls eine langsame, aber verlässliche Methode einer schnelleren, aber störanfälligen vorzuziehen sein – eben vor allem, um die Aufenthaltszeiten der Mitarbeitenden in Strahlenfeldern, zum Beispiel bei Reparaturarbeiten, so gering wie möglich zu halten.
Zur Person
Detlef Beltz ist Leiter Stilllegung und Abbau bei TÜV NORD. Der diplomierte Physiker leitet außerdem den Ausschuss „Stilllegung“ bei der Entsorgungskommission (ESK), einem Expert:innengremium, das das Bundesumweltministerium in Fragen der nuklearen Entsorgung berät.
Ein besonderes Augenmerk gilt sicher den Brennelementen.
Jeder Arbeitsschritt wird von uns darauf geprüft, ob er keine Rückwirkungen auf sicherheitstechnisch wichtige Systeme der Anlage hat, etwa auf die Kühlung der Brennelemente. Diese Brennelemente enthalten rund 99 Prozent der Radioaktivität des Kernkraftwerks. Nach der Abschaltung müssen sie mehrere Jahre in einem Kühlbecken abklingen, bevor sie in Castorbehälter verpackt und anschließend in ein Zwischenlager transportiert werden können. Das Wasser in diesem sogenannten Brennelementlagerbecken schirmt einerseits die Strahlung ab und leitet andererseits die Wärme ab, die die Brennstäbe im Zerfallsprozess entwickeln. Es wäre also keine gute Idee, dieses Becken oder auch nur Hilfssysteme, mit denen es vernetzt ist, abzubauen.
Bevor die Brennelemente nicht aus dem Kernkraftwerk geschafft worden sind, wird also nicht in größerem Stil zurückgebaut?
Bei frühen Kernkraftwerken hat man das so gehandhabt. Heute schaut man viel genauer, was sicherheitstechnisch relevant ist und was gegebenenfalls auch schon vorher abgebaut werden kann. Im Fall der nun abgeschalteten Kernkraftwerke etwa den Generator, der für die Kühlung der Brennstäbe nicht relevant ist. Die Turbinen und Generatoren können grundsätzlich relativ früh abgebaut werden, da sie heutzutage keine sicherheitstechnische Bedeutung beziehungsweise Funktion mehr haben. Je mehr man aber in den Kern der Anlage vordringt, desto höher wird die Radioaktivität; und damit steigen auch die Schutzanforderungen, die beim Rückbau erfüllt werden müssen.
Teil einer Turbine aus einem Siedewasserreaktor. Im Hintergrund ist eine große Säge erkennbar, mit der Großkomponenten zerlegt werden können.
Was passiert mit den abgebauten Materialien?
Nach dem Atomgesetz gibt es zwei Möglichkeiten, mit den Reststoffen und abgebauten Anlagenteilen umzugehen. Entweder kann man sie „schadlos verwerten“. Das heißt, sie unterschreiten nachweislich die geltenden Grenzwerte und stellen für Mensch und Umwelt keine Gefahr dar. Dann können sie beispielsweise auf Mülldeponien entsorgt oder im Straßenbau wiederverwendet werden. Dazu müssen sie zunächst freigemessen werden. Dieser Prozess, „Freigabe“ genannt, ist sehr aufwendig und anspruchsvoll, er wird auch von unseren Fachleuten überwacht. Die Sachverständigen stehen an der Freimessanlage – einer Anlage, die die Einhaltung der Grenzwerte sicherstellen soll – und überprüfen, ob alle Einstellungen richtig sind. Sie entnehmen Kontrollproben, die wir in unseren Laboren auswerten und mit den Ergebnissen der Freimessanlage im Kernkraftwerk vergleichen.
Welcher Teil eines Kernkraftwerks fällt in diese Kategorie?
98 Prozent der Gesamtmasse eines Kernkraftwerks können auf diese Weise entsorgt werden. Die restlichen zwei Prozent sind radioaktive Abfälle, und diese müssen als solche „geordnet beseitigt“ werden, das ist dann die zweite Möglichkeit nach dem Atomgesetz. Dabei unterscheidet man zwischen zwei Arten von radioaktiven Stoffen, die auch einen jeweils anderen Umgang erfordern: aktivierte und kontaminierte Stoffe. Bei der Kontamination ist etwas mit Radioaktivität verunreinigt. Beim Rückbau werden die kontaminierten Schichten etwa einer Betonwand oder einer Rohrleitung abgefräst oder mit Hochdruckstrahlern abgewaschen, bis das darunterliegende Material keine relevante Strahlung mehr aufweist. Das kontaminierte Material wird zum Beispiel in Fässer verpackt, die dann in Stahlblechcontainer, sogenannte Konrad-Container, eingelegt werden. Diese wiederum kommen zunächst in ein Zwischenlager und schließlich in den Schacht Konrad, das Endlager für nicht Wärme entwickelnde radioaktive Abfälle, das 2029 in Betrieb gehen soll. Die radioaktiven Abfälle werden konditioniert, sie werden also beispielsweise getrocknet oder verpresst, damit einerseits Rostschäden an Abfallbehältern vermieden werden und andererseits die radioaktiven Abfallgebinde insgesamt ein möglichst geringes Volumen haben. Das Endlager Konrad hat schließlich nicht unbegrenzt Kapazitäten.
Am Standort eines ehemaligen Eisenerz-Bergwerkes wurde das Endlager Konrad errichtet, dass 2029 in den Betrieb gehen soll.
Und die zweite Art der radioaktiven Stoffe?
Dabei handelt es sich um Komponenten oder Gebäudeteile überwiegend aus dem Reaktorkern oder dessen unmittelbarer Umgebung. Der Reaktordruckbehälter und seine metallischen Einbauten, in denen die Brennelemente steckten, ist durch deren Neutronenstrahlung selbst aktiviert und radioaktiv geworden. Diese stark strahlenden Komponenten werden unter Wasser zum Beispiel mittels Plasmaschneidern zerteilt, in Fässer verpackt und anschließend in eine dicke metallische Abschirmung gesteckt. Erst dann können sie aus dem strahlungsabschirmenden Wasser herausgezogen werden. Die dabei verwendeten Geräte werden vom Beckenrand ferngesteuert und ebenfalls vorab von uns geprüft: Sind sie grundsätzlich für den Einsatz geeignet? Gibt es Interventionskonzepte? Wenn ein Gerät unter Wasser seinen Geist aufgibt, dann muss es auch geborgen werden können, ohne dass man dafür eine Taucherin oder einen Taucher runterschicken muss. Auch für diese aktivierten Komponenten ist eine Endlagerung im Schacht Konrad möglich, nicht jedoch für die hoch radioaktiven und Wärme entwickelnden Materialien wie zum Beispiel Brennelemente oder Abfälle aus deren Wiederaufarbeitung. Hierfür muss noch ein Endlager gefunden werden – Schacht Konrad ist dafür nicht geeignet. Es wird sicher noch bis zur Mitte, möglicherweise bis zum Ende des Jahrhunderts dauern, bis ein geeigneter Ort gefunden, das Endlager ausgebaut ist und die Brennstäbe aus den Zwischenlagern dorthin geschafft worden sind.
Wann ist so ein Rückbau schlussendlich vollzogen?
In Deutschland verfolgen wir meistens das Ziel der grünen Wiese. Am Ende soll also die gesamte Masse des Kernkraftwerks weggeschafft sein, inklusive der Fundamente im Boden. Der Abbau insgesamt ist ein langwieriger Prozess, der – selbst wenn alles reibungslos läuft – ohne Weiteres zehn bis 15 Jahre beanspruchen kann. Je nach Situation vor Ort auch deutlich länger. Der Rückbau im Kernkraftwerk Greifswald läuft seit nunmehr 28 Jahren und ist nach wie vor nicht abgeschlossen.
Und wenn das letzte Kernkraftwerk in Deutschland abgebaut ist, ist Ihre Arbeit und die Ihrer Kolleginnen und Kollegen dann getan?
Mitnichten. Es werden neue Genehmigungen für die vorhandenenZwischenlager für bestrahlte Brennelemente und hoch radioaktive Abfälle benötigt. Diese Genehmigungen sind derzeit auf 40 Jahre befristet, und die ersten laufen in den 2030er-Jahren aus. Und die radioaktiven Abfälle existieren ja weiter, wenn über dem ehemaligen Kernkraftwerk bereits wieder die grüne Wiese wächst. Auch viele schwach und mittel radioaktive Abfälle, die im Zuge des Abbaus der Kernkraftwerke anfallen, müssen etwa noch darauf geprüft werden, ob sie alle Bedingungen für Schacht Konrad erfüllen. Die ganzen Arbeiten im Zusammenhang mit der Errichtung des Endlagers für Wärme entwickelnde radioaktive Abfälle haben dann noch gar nicht richtig begonnen. Die Nutzung der Kernenergie – selbst wenn wir heute den Schwerpunkt auf die Themen Stilllegung und Entsorgung in Deutschland gesetzt haben – wird uns daher noch auf Jahre und Jahrzehnte beschäftigen.