16. November 2023
Lastwagen und Züge transportieren eigenständig Waren von A nach B – so die Idee des autonomen Güterverkehrs. Aber wo stehen wir heute beim selbstfahrenden Warentransport auf Straße und Schiene? Darüber haben wir mit dem Eisenbahnsachverständigen Hans Vallée gesprochen und mit Katrin Leicht, Projektleiterin autonomes Fahren bei TÜV NORD.
Frau Leicht, Herr Vallée, welche Rolle können autonome oder automatisierte Fahrzeuge im Güterverkehr auf Straße und Schiene spielen?
Hans Vallée: Bei der Bahn sprechen wir hier in erster Linie vom automatisierten Fahren. Ein Beispiel wäre das Transportsystem Bögl – ein automatisiertes Magnetschwebebahnsystem, das wir geprüft haben. Während sich diese Züge wie herkömmliche an festgelegten Routen und einem Fahrplan orientieren, würde sich ein autonomes Fahrzeug eigenständig seine Route suchen können, also etwa bei Stau auf eine andere Strecke ausweichen. Anders als auf der Straße ist das im Bahnverkehr nicht möglich, da das Schienennetz der meisten Länder nicht groß genug dafür ist und eine eigenständige Wegfindung mit der zentralen Organisation des Zugverkehrs nicht kompatibel wäre. Autonomes Fahren in der Bahn ist daher nur an abgeschlossenen Orten sinnvoll vorstellbar: etwa in Depots oder Rangierbahnhöfen, wenn es darum geht, autonom Waggons zu sortieren – was mithilfe der digitalen automatischen Kupplungen möglich sein wird, auf die die Bahn im Güterverkehr bald umrüsten will.
Und wie ist Situation beim autonomen Güterverkehr auf der Straße?
Katrin Leicht: Bei der Unterscheidung zwischen autonomem und automatisiertem Verkehr orientieren wir uns auf der Straße an den Autonomiestufen der Normierungsorganisation SAE. Komplett autonom unterwegs wäre ein Fahrzeug auf Level 5, hier würde das System vollumfänglich die gesamten Fahraufgaben übernehmen. Diese Stufe bleibt jedoch in der Praxis auch im Güterverkehr auf absehbare Zeit utopisch. Denn ein solches Transportfahrzeug müsste sich auf jedem Gelände bei allen möglichen Verkehrssituationen und Umgebungsbindungen zurechtfinden. Und hier stößt die Technik bis auf Weiteres an ihre Grenzen.
Auf welchem Automatisierungslevel sind wir bereits in der praktischen Erprobung angekommen?
KL: Level 4 – hier muss das System in einem zuvor definierten Bereich ohne Fahrpersonal zurechtkommen. Wir als TÜV NORD überprüfen in zwei Schritten, ob das Fahrzeug die dafür nötigen Eigenschaften besitzt und ob sich das Fahrzeug auf dieser vorgesehenen Strecke tatsächlich eigenständig bewegen kann.
© TÜV NORD / Matthias HaslauerDr. Hans Vallée ist Sachverständiger und Gutachter für funktionale Sicherheit mit Schwerpunkt Eisenbahn bei TÜV NORD. Katrin Leicht ist Fahrzeugingenieurin am Institut für Fahrzeugtechnik und Mobilität (IFM) und Leiterin autonomes Fahren bei TÜV NORD.
Sind die Systeme dazu technisch schon vollumfänglich in der Lage?
KL: Tatsächlich gibt es hier weiterhin technische Herausforderungen, vor allem beim Herzstück autonom fahrender Systeme: der korrekten Erkennung von relevanten Objekten und Situationen im Umfeld sowie der passenden Reaktion darauf. Ein Beispiel aus unseren Prüfungen: Ein großer Löwenzahn am Straßenrand wird möglicherweise vom System als potenzielles Hindernis erkannt, woraufhin das Fahrzeug zum Halten gebracht wird. Damit die Fahrzeuge sich jederzeit und überall genau lokalisieren können, benötigen wir außerdem eine flächendeckende Abdeckung mit GPS und dem Mobilfunkstandard 5G – und hier gibt es aktuell noch größere Lücken.
Wo und in welchen Bereichen könnten künftig automatisierte Fahrzeuge im Güterverkehr zum Einsatz kommen?
KL: Potenzial hat sicher das sogenannte Platooning, also das gemeinsame Fahren mehrerer miteinander vernetzter Fahrzeuge in geringen Abständen. Allerdings müssen hier ebenfalls noch viele Fragen geklärt werden.
HV: Platooning eröffnet die Möglichkeit, dass Logistikunternehmen bestimmte Zeitkorridore auf festgelegten Routen reservieren. Ein Beispiel: Donnerstagnachts fährt zu einer festen Uhrzeit immer eine Lkw-Kolonne mit einem menschlich gesteuerten Leitfahrzeug und automatisierten Folgefahrzeugen von Hamburg nach Berlin. Wenn allerdings ständig Kolonnen schwerer Lkw spurgenau durchs Land rollen, könnte das nicht ohne Folgen für die Fahrspuren bleiben und der Sanierungsbedarf bei Autobahnen entsprechend steigen.
Hätte ein vollautomatisierter Güterverkehr denn klare wirtschaftliche Vorteile gegenüber Menschen am Steuer und am Regler?
HV: Was Züge betrifft, ist das eine berechtigte Frage. Die Bahn ist ein Massenverkehrsmittel, ein Güterzug zieht Dutzende Waggons. Ist in diesem Prozess die Person, die die Lok führt, wirklich ein so großer Kostenfaktor, dass man sie durch die Einführung einer komplexen und teuren Technik ersetzen muss? Mein Eindruck ist, dass ein Mensch im Führerstand in Sachen Effizienz bis auf Weiteres unschlagbar ist.
Platooning als Potenzial: Hierbei fährt eine Lkw-Kolonne mit einem menschlich gesteuerten Leitfahrzeug und automatisierten Folgefahrzeugen von A nach B.
Der Bedarf an Lkw-Fahrenden ist heute schon groß – automatisierte Fahrzeuge könnten künftig für Entlastung sorgen.
Gilt das auch für den Lkw-Verkehr?
KL:Dabei ist die Situation eine andere. Zwar benötigen wir auch hier komplexe und teure Technik, um Aufgaben von Lkw-Fahrenden zu übernehmen. Und Menschen werden dann weiterhin gebraucht, weil es Leitzentralen geben muss, in denen Mitarbeitende die Gütertransporte kontrollieren. Der Vorteil ist jedoch, dass diese Jobs für die meisten Menschen sozialverträglicher sind als der Beruf der Fernfahrenden, die oft tage- bis wochenlang unterwegs und weg sind von zu Hause. Der Mangel an Lkw-Fahrerinnen und Lkw-Fahrern ist heute schon groß. Automatisierte Fahrzeuge könnten hier künftig für eine Entlastung sorgen.
Im Personenverkehr werden bereits autonome Kleinbusse erprobt. Könnten diese sogenannten Peoplemover auch im Lieferverkehr zum Einsatz kommen, der die Städte zunehmend belastet?
KL: Zunächst einmal hat der Güterverkehr im Vergleich zum Personenverkehr einen Vorteil: Es gibt keine Passagierinnen und Passagiere an Bord, um die man sich kümmern und die man im Blick haben muss; es gibt auch keine Reihe von Haltestellen mit Ein- und Ausstiegen. Städte und Hersteller testen in Pilotprojekten Einsatzmöglichkeiten für autonom fahrende Peoplemover, und ich denke, man sollte tatsächlich verstärkt darüber nachdenken, wie man diese Fahrzeuge auch für den Gütertransport nutzen könnte.
HV: Die Kehrseite bei solchen Gütermovern ist natürlich, dass sich die Ladung im Gegensatz zu menschlichen Passagier:innen nicht selbstständig ins Fahrzeug ein- und auslädt. Im Lieferverkehr ist die Wegstrecke aber bestenfalls die halbe Miete. Was vorher und nachher mit den Gütern passiert, ist mindestens genauso wichtig. Hier müssen entsprechend Systeme entwickelt werden, die die Abfahr- und die Empfangskriterien des automatisierten Liefertransports regeln.
Welche Rolle spielen Sie und Ihre Kolleg:innen auf dem Weg zum vollautomatisierten oder autonomen Verkehr auf Straße und Schiene?
HV: Bei der Bahn schauen wir uns an, was unsere Auftraggeber realisieren wollen, und klären dann die Frage: Ist die Entwicklung in den Bereichen Technik, aber auch Security und Betrieb sicher genug – oder gibt es Bereiche, wo noch einmal nachgebessert werden muss?
KL: Auch im Straßenverkehr besteht unsere Aufgabe darin, Lücken in den Systemen zu identifizieren, damit sie anschließend geschlossen werden können. Geeignete Prüfverfahren müssen vor der Markteinführung solcher Systeme eine ausreichende Sicherheit nachweisen. Die Strecken, auf denen sich automatisierte Fahrzeuge bewegen, müssen zum Fahrzeug und seinen autonomen Fähigkeiten passen. Hier sind wir als Prüforganisation gefragt. Zukunftsszenarien in Medien und Öffentlichkeit verheißen oft einen rasanten Fortschritt hin zum autonomen Verkehr. Wir bremsen diesen Fortschritt nicht aus, sondern machen ihn sicher. Automatisiertes Fahren ist hochkomplex. Deshalb ist es ratsam, immer Schritt für Schritt vorzugehen.