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Kurz nachgefragt

Wie hilft KI bei der Hauptuntersuchung?

23. Mai 2024

„Alexa, mach die Lampe an“, „Siri, ruf Tante Grete an“: KI-gestützte Sprachsteuerungssysteme sind aus dem Alltag vieler Menschen kaum noch wegzudenken. Künftig kommen sie auch bei der TÜV-Prüfung zum Einsatz: Roman Meier-Andrae und seine Kolleginnen und Kollegen von TÜV NORD Mobilität haben gemeinsam mit dem Start-up voize ein KI-Tool entwickelt, das Sachverständige bei der Hauptuntersuchung unterstützt.

 

Herr Meier-Andrae, Sie haben einen digitalen Prüfassistenten mitentwickelt, der die Arbeit der Prüfenden in der Hauptuntersuchung erleichtern soll. Wie?

Roman Meier-Andrae: Wenn Prüferinnen oder Prüfer heute unter dem Auto stehen und einen Mangel feststellen, müssen sie die Prüfung unterbrechen, ihr Tablet suchen, das Gerät entsperren und den Mangel umständlich in das Gerät eingeben. Dabei müssen sie den Mangel einem Mängelkatalog zuordnen, der 45.000 Einträge hat. Das kostet Zeit und reißt natürlich auch immer wieder aus der eigentlichen Prüfsituation heraus. Mit dem digitalen Prüfassistenten können die Sachverständigen die Mängel einfach über ein Headset per Spracheingabe dokumentieren. Das System ordnet sie dann automatisch einem bestimmten Mangel im Mängelkatalog zu. Wenn es sich unsicher ist, bietet es über eine Benutzeroberfläche auf dem Smartphone unterschiedliche Möglichkeiten an – und lernt dabei ständig dazu. Die Nutzenden müssen dafür keine bestimmten Befehle lernen, sondern können einfach drauflosreden. Das System kommt mit Dialekten klar und lässt sich auch von lauten Geräuschen nicht aus dem Konzept bringen, die in einer Autowerkstatt ja an der Tagesordnung sind.

 

Und welche Vorteile bietet der KI-Einsatz für die Besitzerinnen und Besitzer der Fahrzeuge?

Er unterstützt die Prüferinnen und Prüfer, sodass diese sich voll und ganz auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren können: sich das Fahrzeug gründlich anzusehen. Aber sie gewinnen auch Zeit, um etwa auf mögliche Fragen der Fahrzeughaltenden einzugehen und sich mit den Werkstattleiterinnen oder -leitern über erforderliche Reparaturen abzustimmen. Zugleich können sie den Besitzerinnen und Besitzern im Nachgang über detailliertere Prüfberichte ein umfassenderes Bild des Sicherheitszustands ihres Autos geben – also insbesondere auch auf leichtere Mängel aufmerksam machen, die man im Blick behalten sollte. Das spart Geld und Nerven, da man das eigene Fahrzeug so früher und gezielter warten beziehungsweise reparieren lassen kann.

 

Gewähren Sie uns einen Einblick in die Entwicklung der App. Wie sind Sie hier vorgegangen?

Wir haben uns zunächst in einer Studie sehr intensiv mit dem Alltag der Prüfenden auseinandergesetzt. Wir sind dann auf das Start-up mit Sitz in Berlin gestoßen, das ein Sprachsteuerungssystem für die Pflegedokumentation entwickelt hat und dabei einen ähnlich praxisorientierten und nutzerzentrierten Ansatz verfolgt: Die sind dazu zunächst über einige Wochen in ein Pflegeheim gegangen und haben sich angeschaut, wie die Pflegerinnen und Pfleger unter dem chronischen Zeitdruck ihre Dokumentation erstellen, was sie brauchen, wo es hakt. Dieses System dann auf unsere Anforderungen zu übertragen war kein Selbstläufer, aber da das Start-up ein paar begnadete KI-Expertinnen und -Experten an Bord hat und unheimlich schnell arbeitet, sind wird mittlerweile bereits bei Versionsnummer 90. Wir verbessern sukzessive das System, integrieren in enger Abstimmung mit unseren 100 Testnutzenden neue Funktionalitäten und holen uns von ihnen Feedback ein. Gestandene ältere Kolleginnen und Kollegen spiegeln uns dabei, dass das Tool ihren Arbeitsalltag spürbar leichter macht. Das ist für uns der größte Erfolg und ein Ansporn für die weitere Arbeit.

 

Zur Person:
Roman Meier-Andrae ist Bereichsleiter IT und Digitalisierung bei TÜV NORD Mobilität.

Warum haben Sie nicht einfach ein Sprachsteuerungssystem der großen Techunternehmen genutzt?

Die bekannten Sprachassistenten von Alexa bis Siri sind auf extrem generische Anfragen ausgelegt: Es kann im Prinzip jede und jeder alles fragen, und das System muss dementsprechend den Kontext verstehen. Das Wort „Sitz“ kann ebenso gut etwa ein Befehl sein oder sich auf die Passform eines Kleidungsstücks beziehen. Das bringt solche Systeme immer wieder an ihre Grenzen. Wir – also unser Team von TÜV NORD Mobilität sowie die Expertinnen und Experten von voize – haben den Vorteil, dass wir den Kontext kennen, in dem ein Begriff geäußert wird, und das Wörterbuch, auf das er sich bezieht – wenngleich es mit den besagten 45.000 Mängeln auch sehr groß ist. Das heißt, dass wir das Feld möglicher Bedeutungen stärker eingrenzen können und im Wesentlichen ein semantisches Netz entwickeln müssen, das sämtliche denkbaren Bezeichnungen etwa für den Autositz oder den Blinker abdeckt. Unsere Trefferrate liegt mittlerweile bei 99,8 Prozent. Mit den großen generischen Systemen wäre das kaum zu erreichen.

 

Wie könnte sich der Einsatz von KI in diesen oder anderen Prüfsituationen künftig weiterentwickeln?

Mit dem teilautomatisierten Fahren ziehen immer mehr Sensoren ins Fahrzeug ein. Damit steigt auch der Prüfaufwand. Um dem zu begegnen, werden die Sachverständigen immer mehr Daten aus einer Cloud nutzen können, etwa von einem digitalen Zwilling des jeweiligen Fahrzeugs. Denkbar ist auch ein Empfehlungssystem basierend auf den erhobenen Daten und Erfahrungen, die andere Prüfende mit einem Automodell gemacht haben. Etwa so: Bei diesem Fahrzeugtyp gibt es häufiger Probleme mit der Radaufhängung vorne links, schau dir das mal genauer an. Insgesamt wird die KI sich zunehmend in Prüfungen zum Co-Piloten entwickeln, der bei lästigen und fehleranfälligen Aufgaben optimal unterstützt. Ohne dabei wieder zusätzliche Arbeit zu machen, wie es heute bei digitaler Technik ja immer noch allzu oft der Fall ist.

 

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