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Messtechnik

Richtungsmaß aller Dinge

19. September 2024

Kilometerlange Tunnel in die Erde zu graben erfordert größte Genauigkeit. Dafür, dass sich die riesigen Bohrer unter den Bergmassiven oder dem Meeresboden möglichst exakt in der Mitte treffen, sorgt der Gyromat von DMT. Der hochpräzise Vermessungskreisel der TÜV NORD GROUP-Tochter hat bereits beim Eurotunnel unter dem Ärmelkanal die Richtung vorgegeben und sorgt auch in Schiffsbau und Luftfahrt für Orientierung.

 

Unter Tage lässt sich leicht die Orientierung verlieren, und das nicht nur wegen der Dunkelheit, die dort naturgemäß herrscht. Je mehr Stahl und Eisen in Bergwerksstollen und in Tunneln eingesetzt wird, desto stärker wird eine Kompassnadel abgelenkt. Ein Stollen, der eigentlich etwa nach Norden gegraben werden soll, kann so leicht in die falsche Richtung gehen. Ab den 1950er-Jahren machten sich Fachleute der Westfälischen Berggewerkschaftskasse in Bochum deshalb daran, ein alternatives und hochpräzises Messsystem zu entwickeln, das auf dem Prinzip des Kreisels basiert und sich von Eisen und Stahl nicht ablenken lässt. Mittlerweile ist aus der Berggewerkschaftskasse die DMT geworden – und ihr sogenannter Gyromat der genaueste Vermessungskreisel der Welt.

 

Wenn man Jörg Niese fragt, wie genau der Gyromat misst, dann erklärt er das gern an einem Beispiel: „Wenn man eine Torte in 400 Stücke schneidet und danach eins von diesen kleinen Tortenstückchen in 1.000 noch kleinere Teile schneidet, dann hat man eine Vorstellung von der Genauigkeit.“ Im Fachjargon heißt das: Der Gyromat misst mit einer Richtungsmessgenauigkeit von 0,8/1.000 Gon. Das entspricht einer Abweichung im Bogen von etwa 1,2 Zentimetern über die Entfernung von einem Kilometer. Seine Genauigkeit macht das aktuelle Modell namens Gyromat 5000 zum Goldstandard der Vermessungskreisel.

 

Im Kern ein Kreisel

Der Gyromat hat im Kern einen Kreisel, der an einem empfindlichen Torsionsband, einer Art Feder, aufgehängt ist. Beobachtet wird der Kreisel von einem sehr genauen elektrooptischen Sensor. Gravitation und Erdrotation sorgen dafür, dass sich die Drehachse des Kreisels parallel zur Erdachse ausrichten möchte, die zum Nordpol zeigt. Mit dem Gyromat und einem weiteren Gerät, einem Tachymeter, lässt sich genau bestimmen, in welchem Winkel eine gemessene Linie zum geografischen Norden ausgerichtet ist. „Und das Schöne ist, ich kann das überall machen – im Tunnel, im Schiffsrumpf oder in einer Industriehalle“, erklärt Niese, der bei DMT den Gyromat als Produktmanager betreut.

Dabei ist die technische Entwicklung noch längst nicht abgeschlossen. Die neue Seriengeneration steht mit dem Gyromat 6000 kurz vor der Markteinführung. Dank moderner Digitaltechnik und Lasertechnologie wird der neue Gyromat sicherer und flexibler im Feldeinsatz und der Workflow der Messdatenverarbeitung noch effizienter.

 

Vom Eurotunnel unter dem Ärmelkanal bis zum Brenner-Basistunnel

Der Gyromat kommt überall dort zum Einsatz, wo kein GPS-Signal hinkommt und wo höchste Richtungsgenauigkeit gefragt ist, weil jede Abweichung zu gravierenden technischen Problemen und Kosten in Millionenhöhe führen kann. Das gilt etwa beim Bau großer Schiffe, zunehmend in der Luft- und Raumfahrt und grundsätzlich beim Bau von kilometerlangen Tunneln. Wo Züge mit Geschwindigkeiten von bis zu 300 Stundenkilometern durch die Erde rasen sollen, muss die geplante Tunnelachse hochpräzise eingehalten werden. „Bei längeren Tunnelprojekten kommen häufig zwei oder mehr der riesigen Tunnelbohrmaschinen zum Einsatz“, schildert Niese. Diese starten an unterschiedlichen Punkten mit dem Bohren und müssen sich am Ende natürlich mit der geringstmöglichen Abweichung treffen.

So haben die Fachleute von DMT bereits den Eurotunnel unter dem Ärmelkanal und den Gotthard-Tunnel – seines Zeichens der längste Straßentunnel unter den Alpen – messtechnisch begleitet. Auch der nächste Superlativ wird momentan von den Expertinnen und Experten vermessen: der Brenner-Basistunnel, der ab 2032 Österreich und Italien unter den Alpen verbinden soll. Mit all seinen Zulauftunneln bringt er es dann auf eine Länge von 64 Kilometern, was ihn zum längsten Eisenbahntunnel der Welt machen wird.

 

Tunnel zurück auf die Spur bringen

Auch beim U-Bahn-Bau in skandinavischen Städten wie Göteborg und Stockholm, wo die Tunnel durch den harten Stein gesprengt werden, ist der Gyromat das Richtungsmaß aller Dinge. „Wir sind auch so eine Art Versicherung für unsere Auftraggeber“, sagt Volker Schultheiß, Projektleiter des Vermessungsteams bei DMT. In vielen Fällen bestätigen die Gyromat-Messungen deren Daten und geben ihnen so Sicherheit, dass sie tatsächlich auf dem richtigen Weg sind. Schultheiß kennt aber auch andere Fälle: „Wir haben mit dem Gyromat schon aufgedeckt, dass ein Tunnel mehrere Meter aus der Achse gewesen ist.“ Dank der Fachleute und ihrem Präzisionsmessgerät konnte dieser Fehler korrigiert und der Tunnel zurück auf die Spur gebracht werden. Die Genauigkeit des Gyromat wurde und wird mit jeder Generation sukzessive weiter erhöht.

 

Diese Genauigkeit haben mittlerweile auch weitere Branchen für sich entdeckt: Große Schiffe etwa werden wie ein gewaltiges Puzzle aus einzelnen Teilen zusammengesetzt. Der Vermessungskreisel hilft dann dabei, die Maschinenteile im Schiff exakt zu positionieren. Viele große Werften verwenden den Gyromat aber auch, um ihre Kalibrierungssysteme für die Navigationsgeräte der dort gebauten Schiffe exakt abzustimmen. Unternehmen in der Luft- und Raumfahrttechnik nutzen ebenfalls das Gerät als Referenzstandard, um ihre eigenen Kreiselkompasssysteme zu kalibrieren, die beispielsweise in Flugzeugen, Hubschraubern oder Satelliten zum Einsatz kommen. So hat DMT im Frühjahr dieses Jahres für einen neuen Weltraumbahnhof auf den norwegischen Lofoten Referenzlinien für die hochgenaue Ausrichtung der Startrampe für die Raketen eingemessen.

 

U-Bahn zur WM

Der Vermessungskreisel und die Expertise der Fachleute von DMT waren aber auch beim Bau der U-Bahn-Tunnel für die Fußball-WM-Stadien in Katar gefragt. Volker Schultheiß und sein Team betreuten hier 16 Tunnelbohrmaschinen. Bei ihren Einsätzen stoßen die Vermessungsingenieurinnen und -ingenieure mitunter auf extreme Bedingungen: Temperaturen von bis zu 45 Grad im Tunnel etwa. „Richtig extrem ist die Luftfeuchtigkeit, die macht einen manchmal fertig“, erzählt Schultheiß, der viel im Mittleren und Nahen Osten unterwegs ist.

Heiß ist es auch in Kairo. Dort, genauer gesagt direkt bei den Pyramiden von Gizeh, wird eine neue Metro gebaut, die demnächst das historische Areal mit der Innenstadt verbinden wird. Die Vermessungsexpertinnen und -experten von DMT führen hier alle drei Monate Kreiselmessungen durch. Ein neues Großprojekt startet für die DMT-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter im September: In Saudi-Arabien entsteht „NEOM“, eine neue Megacity mitten in der Wüste. Diese Stadt wird 170 Kilometer lang und nur 200 Meter breit sein. Unter ihr entsteht ein Tunnelsystem für Züge und für die Infrastruktur. Auch hier ist DMT am Start – mit Vermessungskreiseln, die die Tunnelvortriebe kontrollieren und Abweichungen korrigieren.

Schultheiß ist bei seinen Vermessungsreisen rund um den Globus natürlich nicht mit dem Gyromat im Handgepäck unterwegs. Das Gerät ist hochempfindlich und wird daher in extra angefertigten und 50 Kilogramm schweren Spezialboxen transportiert. Speditionen, die sich auf sehr empfindliche Waren spezialisiert haben, bringen den Gyromat dann sicher zur Baustelle. Damit er mit unerreichter Präzision die gewaltigen Bohrmaschinen auf ihrem Weg durch die Erde an ihr Ziel leiten kann.

 

Zur Person:

Jörg Niese ist Entwicklungsleiter Geodätische Messsysteme und Produktmanager für den Gyromat bei DMT.

Zur Person:

Volker Schultheiß ist Projektleiter für internationale Tunnelprojekte im Bereich der Ingenieurvermessung bei DMT.

Entdeckt, erklärt, erzählt: Der Podcast von #explore