30. Oktober 2024
Manche Menschen wirken, als wären sie mit ihrem Smartphone verwachsen. Überhaupt spielt Technik in unserem Alltag eine immer größere Rolle. Was aber geschieht, wenn Mensch und Technik tatsächlich verschmelzen? Das wurde für den Psychologen Bertolt Meyer, Professor für Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie an der TU Chemnitz, von einer persönlichen zu einer wissenschaftlichen Fragestellung.
Herr Meyer, Sie sind selbst mit einer sichtbaren Körperbehinderung aufgewachsen. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Bertolt Meyer: Mir fehlt von Geburt an der linke Unterarm. Wenn man mit einer solchen Fehlbildung auf die Welt kommt, macht man sehr früh zwei Erfahrungen: Zunächst kann man einige Dinge natürlich nicht so gut wie die anderen. Bogenschießen beispielsweise, das unter meinen Spielkameradinnen und -kameraden zeitweise sehr angesagt war, ist mit einer Hand wirklich schwierig. Aber insbesondere, wenn man es nicht anders kennt, kommt man auch mit einer solchen Einschränkung gut durchs Leben.
Und die zweite Erfahrung?
Das ist tatsächlich die problematischere: Als Mensch mit Behinderung wird man von anderen oft mitleidig und von oben herab behandelt. Ein Beispiel: Vor einiger Zeit waren wir mit den Schwiegereltern essen, saßen zu viert am Tisch. Der Kellner brachte vier Teller. Nur auf meinem war das Fleisch zerschnitten. Der meinte das nett, für mich war es eine Unverschämtheit. Denn ich habe weder nach Hilfe gefragt noch hätte ich sie gebraucht.
Was hat die bionische Prothese für Sie verändert?
Verblüffend viel! Anders als ältere Modelle sehen diese modernen bionischen Prothesen nicht länger nach einem Hilfsmittel aus dem Sanitätshaus aus. Man sieht ihnen vielmehr die Hightech an, die in ihnen steckt. Seit ich die bionische Prothese trage, ist das Mitleidige, Verschämte, teilweise auch leicht Angeekelte, mit dem ich zuvor konfrontiert war, schlagartig Neugier und Interesse gewichen. Besonders Kinder und Jugendliche finden die Prothese richtig cool. Und „cool“ ist normalerweise das Gegenteil von „behindert“.
Aus dieser persönlichen Erfahrung erwuchs eine Forschungsfrage.
Ja, und zwar die folgende: Wie beeinflusst die sichtbare technologische Aufrüstung des menschlichen Körpers, wie wir einander sehen und miteinander umgehen? In mehreren Studien haben wir daher zunächst wissenschaftlich untersucht, wie solche hochtechnologischen Prothesen die Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung verändert.
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Im Vorteil? Im Leistungssport, so sagt Prof. Bertolt Meyer, werden Sportler:innen mit Prothesen eher argwöhnisch betrachtet.
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Unterstützung bei körperlicher Arbeit: Moderne Exoskelette helfen beim Heben schwerer Gegenstände – oder auch in der Pflege.
Mit welchem Ergebnis?
Menschen mit Behinderung haftet, krass formuliert, das Stigma des „netten Behindis“ an: vermeintlich harmlos und wenig kompetent. Unsere Studien haben nun ergeben, dass bionische Prothesen aus Sicht nicht behinderter Menschen dieses Stigma weitestgehend ausgleichen. Die Trägerinnen und Träger wurden als fast genauso kompetent betrachtet. Und auch die Selbstwahrnehmung der Menschen mit bionischer Prothese verändert sich, wie wir in einer anderen Studie herausgefunden haben. Diese schätzen sich ihrerseits als kompetenter ein und erleben eine größere Selbstwirksamkeit. Das zeigt: Diese technische Aufrüstung des Körpers hat neben ihrem Alltagsnutzen auch einen enormen psychologischen Effekt.
Und wie verhält es sich im Sport? Was passiert, wenn ein behinderter Mensch mit Prothese Sportlerinnen und Sportler ohne Behinderung übertrifft?
Dann ändert sich das Bild. Der unterschenkelamputierte Weitspringer Markus Rehm etwa springt weiter als jeder nicht behinderte Weitspringer in Deutschland. Und dann ist da schnell von einem „unfairen Vorteil“ oder gar von „Techno-Doping“ die Rede, weil der eben noch als unterlegen belächelte Mensch mit Behinderung zur Konkurrenz wird und den eigenen Status bedroht. Aber wenn man ein ausgrenzendes Stereotyp durch ein anderes ersetzt, nämlich das des betrügerischen und bedrohlichen Maschinenmenschen, ist für eine inklusivere Gesellschaft nichts gewonnen.
Und was ist, wenn „gesunde“ Körper etwa durch ein Exoskelett technisch aufgerüstet werden?
Ebendieser Frage wollen wir uns in weiteren Studien widmen. Denn in der Industrie gibt es nach wie vor viele Arbeitsabläufe, die nicht oder nur mit hohem Aufwand ergonomischer gestaltet werden könnten. Exoskelette sind hier eine Lösung, um die Arbeitenden zu entlasten. Dasselbe gilt für die Altenpflege, die körperlich extrem fordernd ist. Angesichts von Fachkräftemangel und einer immer älter werdenden Bevölkerung ist eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen notwendig. In diesen Bereichen wird ja auch verschiedentlich schon mit Exoskeletten experimentiert. Die Frage, die uns dabei beschäftigt, ist: Was macht das mit der Selbstwahrnehmung der Pflegekräfte und mit den Bewohnenden der Altenheime?
Haben Sie dazu bereits erste Hypothesen?
Die naheliegende Annahme wäre: Die alten Menschen haben Angst vor dem Exoskelett und damit auch vor den Pflegekräften. Ich denke aber, dass es so einfach nicht ist. Denn in soziale Interaktionen fließen immer verschiedene Faktoren ein, die sich wechselseitig beeinflussen: Wenn den Pflegekräften die Arbeit leichter fällt, sie gut gelaunt ins Zimmer kommen und bestenfalls mehr Zeit haben für Gespräche, fühlen sich auch die Bewohnenden besser umsorgt und aufgehoben – wodurch sie möglicherweise das Exoskelett positiv konnotieren.
Wie blicken Sie generell auf die technologischen Möglichkeiten, die uns in Zukunft erwarten könnten: mit Sorge oder mit Vorfreude?
Zunächst einmal können wir festhalten, dass sich bislang weder die positiven noch die negativen Zukunftsprognosen erfüllt haben: Die fortschreitende Automatisierung hat mitnichten Wohlstand für alle geschaffen und dafür gesorgt, dass wir weniger arbeiten müssen, wie es etwa der Arbeitssoziologe Frithjof Bergmann in den 1970er-Jahren prognostizierte. Die Maschinen haben aber andererseits auch nicht die Herrschaft an sich gerissen oder uns arbeitslos gemacht, wie es immer wieder befürchtet wird. Wir können vielmehr feststellen, dass neue Technologien zwar Tätigkeiten obsolet machen, etwa den Beruf der Telefonistin oder des Telefonisten. Zugleich schaffen sie allerdings auch neue Betätigungsfelder. Man denke nur an die Armada von Webdesignerinnen und -designer, die durch die Entwicklung des World Wide Web überhaupt erst benötigt wurden. Man muss mit Zukunftsprognosen daher immer vorsichtig sein. In mir ist jedoch die Überzeugung gereift, dass uns insbesondere KI künftig in vielen Bereichen mehr und mehr mühevolle Fleißarbeit abnehmen kann. Und das in einem Maße, das ich selbst vor wenigen Jahren noch nicht für möglich gehalten hätte. Im Zusammenspiel mit der Weiterentwicklung der Robotik können wir so tatsächlich dahin kommen, eintönige, schmutzige und gefährliche Arbeiten stärker an Maschinen auszulagern. Das setzt aber voraus, dass wir Arbeit tatsächlich menschenzentriert denken und gestalten.
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Zur Person:
Bertolt Meyer ist Professor für Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie an der TU Chemnitz. Der Psychologe beschäftigt sich unter anderem mit der Verschmelzung von Mensch und Technik und mit Diversität. Daneben moderiert Meyer Wissenschaftsformate auf Arte und Deutschlandfunk Kultur. 2024 wurde er vom Deutschen Hochschulverband als „Hochschullehrer des Jahres“ ausgezeichnet.
Was bedeutet das?
Bislang dominiert ein technologiezentrierter Ansatz: Das heißt, dass Unternehmen alle Prozesse automatisieren, bei denen es möglich und wirtschaftlich ist. Für die menschlichen Arbeitskräfte bleiben dabei oft nur unvollständige Hilfstätigkeiten übrig, also der „Rest“, den die Maschine – noch – nicht kann. Stattdessen sollten wir bei den Kompetenzen des Menschen ansetzen, also fragen: Wie können wir unsere menschlichen Fähigkeiten durch Technologien so unterstützen, dass Arbeit gesünder, motivierender und erfüllender wird? Deshalb dürfen wir diese Weichenstellungen und Entscheidungen nicht ausschließlich Ingenieurinnen und Ingenieuren sowie Betriebswirtinnen und Betriebswirten überlassen, sondern müssen eine gesamtgesellschaftliche Debatte darüber führen, wie eine gute und gelungene Mensch-Maschine-Kollaboration aussehen kann.