21. Oktober 2024
Wer sich weiterbilden will, verbringt seine Zeit oftmals in Seminarräumen oder vor dem Bildschirm. Die Praxis kommt dabei zu kurz: Notfallsituationen sind nicht ohne Weiteres simulierbar, die entsprechenden Maschinen nicht überall verfügbar oder schlicht zu gefährlich für noch unerfahrene Anwendende. Die TÜV NORD Akademie will das ändern – mit den Virtual-Reality-Trainings des Start-ups 3spin Learning.
Auf der Ladefläche des Lieferwagens noch den Werkzeugkasten kontrollieren, dann geht es hinein in den Aufzug und hinauf ins Maschinenhaus der Windkraftanlage. Die Kontrollsysteme sollen überprüft werden: Arbeiten die Sensoren korrekt? Check. Der Wind soll heute mit drei bis fünf Metern pro Sekunde aus dem Westen kommen? Check. Die Stromversorgung ist geprüft, danach auch die Testsequenz aktiviert. Plötzlich bebt das Maschinenhaus. Ein Erdbeben. Herabgestürzte Stahlträger haben die Luke nach unten blockiert. Bleibt nur die Luke nach oben. Doch das Scharnier ist verklemmt. Ein, zwei Schläge mit dem Hammer, die Luke ist offen. Also über die Leiter hoch auf das Dach des Maschinenhauses.
Der Rettungshubschrauber schwebt schon über der Anlage. Doch solange sich die Windräder drehen, kann er sich nicht weiter nähern. Also zurück ins Maschinenhaus und die Anlage stoppen. Anschließend wieder hinauf: gerettet! Unter dem Hubschrauber ziehen gelbe Rapsfelder vorbei. Und schiebt man dann die Virtual-Reality-Brille nach oben, findet man sich im Seminarraum der TÜV NORD Akademie in Berlin-Mitte wieder.
Lernen, als wäre man vor Ort
Erlebnisorientiertes oder immersives Lernen lautet das Stichwort, erklärt Thomas Hoger, Mitgründer der Virtual-Reality-Plattform 3spin Learning, an der die TÜV NORD Group sich Anfang 2024 beteiligt hat. „Immersives Lernen ist eine Lernmethode, die moderne Technologien – in unserem Fall Virtual Reality, Augmented Reality und Mixed Reality – nutzt, um eine vereinnahmende Lernerfahrung zu schaffen.“ Die Teilnehmenden lernen also so, als wären sie vor Ort und könnten dort selbst Hand anlegen. Der Ernstfall in einer Windkraftanlage lässt sich schließlich nicht mal eben in der Realität simulieren.
Da dieser virtuelle Besuch im Maschinenhaus zunächst einmal die grundsätzliche Möglichkeit eines solchen Prüfeinsatzes demonstrieren soll, deckt er momentan noch nicht alle Szenarien ab, die in einer solchen Situation relevant sein können. Anders als das VR-Training für die Behandlung von Schlaganfallpatientinnen und -patienten, das 3spin Learning 2023 für den Pharmakonzern Pfizer entwickelt hat: Bei diesen Notfällen kommt es auf jede Sekunde und jeden Handgriff an. Doch angehende Ärztinnen und Ärzte müssen sie heute zumeist in Abstell- oder Kellerräumen der Krankenhäuser simulieren. Im VR-Training von 3spin Learning können die Medizinerinnen und Mediziner nun im Schockraum einer Notaufnahme und im CT-Raum die Interaktion mit ihren Kolleginnen und Kollegen sowie virtuellen Patientinnen und Patienten erproben. „Mit einer KI-Anbindung können diese sogar auf alles, was ich sage, jedes Mal unterschiedlich reagieren“, erläutert Hoger.
© TÜV NORD GROUP
Ein lebensnahes Training durch VR- und AR-Anwendungen ermöglicht „leraning by doing“ häufig mit geringerem Aufwand und weniger Gefahren.
Funktionalität vor Fotorealismus
Mit dem lebensnahen Realismus heutiger Computerspiele können die Lernumgebungen zwar nicht mithalten. Das sollen sie aber auch nicht. Beispielsweise bei einem Evakuierungstraining gehe es um den Prozessablauf, die Reaktionsgeschwindigkeit und die emotionale Reaktion der Teilnehmenden, so Hoger. Details wie eine physikalisch korrekt funktionierende Tür seien dafür nicht unbedingt relevant.
Die funktionale Grafik hat jedoch noch einen weiteren Vorteil: VR-Trainings sind beileibe keine neue Sache. Leisten konnten sie sich bislang vor allem große Unternehmen wie Audi oder die Deutsche Bahn, die auf diese Weise etwa ihr Personal für den Einsatz von Rollstuhlliften am ICE schult. Virtual Reality für wenige, das war Hoger und seinen Mitstreitenden nicht genug. Um die Vorteile der Technologie für viele bezahlbar zu machen, haben sie daher ihre „No Code“-Plattform entwickelt – einen virtuellen und cloudbasierten Baukasten, mit dem sich Unternehmen selbst ihre Trainings erstellen können. Auszubildende von E.ON etwa entwerfen über die Plattform bereits diverse Lernszenarien, ohne dafür irgendwelche Programmierkenntnisse zu benötigen.
Virtuelle Kesselwartung
Die TÜV NORD Akademie wird mit 3spin Learning ihre Weiterbildungskurse sukzessive um VR-Module erweitern. Zum Beispiel die Ausbildung zur beziehungsweise zum Gefahrgutbeauftragten: „Um einzuüben, ob das jeweilige Gefahrgut durch die richtigen Aufkleber markiert ist, ob es korrekt verschlossen und gelagert wird, will man ja nicht direkt mit diesen gefährlichen Stoffen hantieren“, erläutert Melanie Vogt von der TÜV NORD Akademie. Auch erste Hilfe bei Stromunfällen und generell die Arbeit mit Hochspannung sollen künftig in der virtuellen Realität gefahrlos geübt werden können. Geplant ist außerdem ein VR-Training für die Weiterbildung zur Kesselwärterin oder zum Kesselwärter. „Die Teilnehmenden können die erlernte Theorie so an einem virtuellen Dampfkessel im Industriemaßstab erproben“, berichtet Vogt.
KI-gestützte Konfliktgespräche
Neben massiven Industrieanlagen lassen sich in der virtuellen Realität auch weiche zwischenmenschliche Situationen simulieren. Heikle Gespräche mit Mitarbeitenden werden in Trainings für angehende Führungskräfte heute in Rollenspielen mit anderen Teilnehmenden nachgestellt. Sprich: Zwei mehr oder weniger Freiwillige sitzen in der Mitte, die anderen können nur zuschauen und anschließend ihre Einschätzung abgeben. „Solche Rollenspiele sind nach meiner Erfahrung häufig nur wenig realistisch und für alle Beteiligten allzu oft eher unangenehm als aufschlussreich“, sagt Melanie Vogt. In der virtuellen Realität kann der Umgang mit solch sensiblen bis kritischen Gesprächssituationen dagegen ohne Ablenkung und unbeobachtet eingeübt werden – und das so lange wie nötig.
Um die Gesprächssituationen möglichst lebensnah zu gestalten, arbeitet 3spin Learning mit künstlicher Intelligenz. „Die KI richtet sich komplett nach dem Wissensstand und den Reaktionen der lernenden Person“, erklärt Thomas Hoger.
© TÜV NORD GROUPDie VR-Lernprogramme erlauben es, Szenarien, Prozesse und Abläufe in einer Stresssituation zu simulieren und zu erlernen.
Die KI-Kolleginnen und -Kollegen überraschen also ihr menschliches Gegenüber mit unterschiedlichem Verhalten, damit sich die Übenden von einem solchen Auftreten schließlich in der Realität nicht mehr aus der Reserve locken lassen. In diesen interaktiven Dialogen könnte die KI auch mit verschiedenen Stimmen, Sprachen, Dialekten oder in Jugendsprache sprechen, ergänzt Hoger: „Das ist also wirklich eine revolutionäre Art des Lernens, die schon jetzt möglich ist und die sich in nächster Zeit natürlich enorm weiterentwickeln wird.“
Zur Person:
Melanie Vogt ist Sales Manager bei der TÜV NORD Akademie in Berlin.
Zur Person:
Thomas Hoger ist Mitgründer von 3spin Learning und beschäftigt sich seit gut 15 Jahren mit den Möglichkeiten von Virtual Reality und Augmented Reality.