27. Juli 2023
Gleich mehrere globale Krisen bedrohen unsere Gegenwart – und unsere Zukunft. Dabei gibt es längst viele Hebel, um diese Herausforderungen zu bewältigen. Zukunftsforscher Ulrich Eberl veranschaulicht in seinem Buch „Unsere Überlebensformel“, welches enorme Potenzial wissenschaftliche Errungenschaften haben. Ein Gespräch über die Notwendigkeit, sie endlich anzuwenden.
#explore: Klimawandel, Artensterben, Welternährung. Welche globale Herausforderung ist aus Ihrer Sicht am drängendsten und müsste zuerst angegangen werden?
Ulrich Eberl: Wenn wir den Klimawandel in den nächsten 20 Jahren nicht massiv bremsen, werden wir auch keine der anderen Krisen in den Griff bekommen. Es hängt alles mit allem zusammen. So würden bei einer Temperaturerhöhung von zwei Grad, die in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts droht, laut Weltklimarat 99 Prozent aller Korallenriffe sterben – die neben den Regenwäldern artenreichsten Ökosysteme. Niederschläge verschieben sich, Dürren nehmen zu, die Ernten könnten um ein Viertel einbrechen. Nicht zu vergessen der Kampf gegen Armut und Ungleichheit: Wenn wir da nicht erfolgreich sind, werden wir bei den Umweltkrisen ebenfalls scheitern, vom Plastikmüll bis zum Klima. Reiche Länder sind keineswegs außen vor: Wenn Regionen unbewohnbar werden, werden Hunderte von Millionen Menschen Grenzen überschreiten – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn!
In Ihrem Buch „Unsere Überlebensformel“ schreiben Sie, dass nicht nur die Vielfalt des Lebens auf der Erde bedroht ist, sondern das Überleben unserer Zivilisation. Kann die Wende überhaupt noch gelingen?
Sie muss gelingen, denn sonst wird die Menschheit in Konflikten untergehen. Wer die Nachrichten verfolgt, könnte leicht in Panik verfallen, doch ich denke, unsere Lage ist besser als die Stimmung. Die Jahrzehnte des Ignorierens der Probleme sind vorbei, endlich beginnt das Arbeiten an Lösungen – nicht schnell und konsequent genug, aber immerhin. Die USA fördern Klimatechnologien mit 370 Milliarden Dollar. Noch mehr mobilisiert die EU, um bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent zu werden. In Partnerschaften helfen wir Ländern wie Südafrika und Indonesien, die Ära der Kohle zu verlassen. Und weltweit entstehen Allianzen für grünen Wasserstoff, gegen die Zerstörung der Regenwälder und für gemeinsame Umwelt- und Sozialstandards bei Rohstoffen wie Lithium und seltenen Erden.
Zur Person
© Peter Hassiepen Piper VerlagDer promovierte Biophysiker Ulrich Eberl war unter anderem langjähriger Leiter der Innovationskommunikation bei Siemens. Heute ist er als selbstständiger Zukunftsforscher, internationaler Vortragsredner und Buchautor tätig.
In Ihrem Buch beschreiben Sie an vielen Stellen, die Lösungen von Wissenschaft und Technik seien längst da. Aber sind sie auch bezahlbar?
Das ist sogar, was mir am meisten Hoffnung macht. Bei E-Autos sind die Kosten für die Batterien seit 2010 um 90 Prozent gesunken. Strom aus Wind und Sonne ist heute überall billiger als Kohlestrom, in manchen Regionen sogar um den Faktor zehn – ohne Subventionen! Kein Wunder, dass inzwischen drei Viertel aller weltweit neu installierten Kraftwerksleistung Wind- und Solaranlagen sind. Selbst grüner Wasserstoff ist auf gutem Wege, bis 2030 kostengünstiger als Wasserstoff aus Erdgas zu werden.
© MAN Energy SolutionsTechnologieoffen: Eine Großwärmepumpe Im dänischen Esbjerg gewinnt aus Meerwasser mit Windstrom genug Fernwärme für 27.000 Haushalte.
Und die Wärmepumpe? Hier sind ja hohe Kosten und fehlende Technologieoffenheit wesentliche Kritikpunkte des Heizungsgesetzes.
Dass bei Neubauten und gut gedämmten Häusern eine Wärmepumpe die effizienteste Lösung ist, wird kaum jemand bestreiten. Mit großen Stückzahlen werden die Kosten weiter sinken. Oft rechnen sich Wärmepumpen aber auch in Bestandsbauten, wobei ich für Pragmatismus plädiere. Wenn sich weniger Klimagasemissionen anders erreichen lassen – ob über Fernwärme, Geothermie, Biogas oder Holzabfälle –, dann sollte man das nicht blockieren. Manches lässt sich auch klug kombinieren: Im dänischen Esbjerg wurde gerade eine Großwärmepumpe installiert, die aus Meerwasser mit Windstrom genug Fernwärme für 27.000 Haushalte gewinnt.
Wie sieht es mit der Welternährung aus? Mehr als 800 Millionen Menschen hungern. Können wir bis 2050 zehn Milliarden Menschen ernähren, ohne die Umwelt weiter zu zerstören?
Ja, aber dafür muss vieles zusammenwirken. So gehen allein durch schlechte Lagerung und Transport weltweit 14 Prozent aller Nahrungsmittel verloren, mancherorts weit mehr. Hier muss man ansetzen. Ebenso bei neuen Züchtungen. Was die bringen, zeigt NERICA, der „New Rice for Africa“: Hier wurde – übrigens ohne Gentechnik – ein trockenresistenter Reis mit ertragreichen Sorten aus Asien gekreuzt, was in Westafrika die Ernten um das Drei- bis Fünffache steigerte. Oder nehmen wir eine Studie des russischen Landwirtschaftsministeriums von 2021. Sie besagt, dass Russland auf brachliegenden Ackerflächen bis zu 450 Millionen Menschen zusätzlich ernähren könnte. Plakativ gesagt: Russland könnte die Welt ernähren, statt Kriege zu führen. Das Wichtigste aber wäre der Umstieg auf eine mehr pflanzenbasierte Ernährung, denn direkt und indirekt braucht die Fleischindustrie fast 80 Prozent der globalen landwirtschaftlichen Fläche und verursacht ein Sechstel aller Klimagase.
Kann auch künstliche Intelligenz helfen? Oder ist sie eher eine Gefahr, wie manche warnen?
Verantwortungsbewusst eingesetzt sind smarte Maschinen, wie ich sie in meinen Büchern nenne, eine große Hilfe. Mit intelligenter Bildverarbeitung erkennen Satelliten illegale Brandrodungen, und Drohnen markieren präzise die Stellen, wo gedüngt oder bewässert werden sollte oder wo Schädlinge Pflanzen befallen haben. Das wird in Indien und Ghana schon eingesetzt. Dank Datenanalyse lassen sich Fabriken und Gebäude effizienter betreiben. KI kann bei Windparks oder bei Zügen Störungen erkennen, noch bevor sie zum Ausfall führen. Und nachhaltige Energiesysteme wie Millionen von Solar- und Windanlagen, E-Autos sowie Strom- und Wärmespeicher sind ohne KI-Unterstützung gar nicht realisierbar.
Steht sich dann nicht die Menschheit selbst im Weg? Was hindert uns, die vielen Lösungen einzusetzen?
Hundert Jahre alte Wirtschaftssysteme umzubauen ist nicht einfach. Bis das Verfeuern von Kohle, Öl und Gas als genauso verpönt gilt wie das Rauchen im Restaurant, das dauert. Auch beim Rauchverbot vergingen Jahrzehnte – und es stand eine mächtige Lobby dagegen. Wie hier das fossile Imperium: Allein sechs der größten Ölgiganten machten 2022 rund 350 Milliarden Dollar Gewinn. Wie viele Solaranlagen, Windräder, Speicher und Elektrolyseure ließen sich damit bauen? Doch in vielen Ländern hat der Wertewandel begonnen. Und er wird an Tempo gewinnen, wenn wir uns von der Verzichtsdebatte lösen. Denn es ist genau andersherum: In einer Stadt der kurzen Wege mit viel Grün und mehr Holz statt Beton lebt es sich stressfreier, weniger Fleisch zu essen ist gesünder, Solar- und Windstrom machen uns weniger erpressbar und so weiter. Wer versteht, dass es nicht um Verzicht, sondern um mehr Lebensqualität geht, der engagiert sich viel eher für eine lebenswerte Zukunft.
Unsere Überlebensformel: Neun globale Krisen und die Lösungen der Wissenschaft
Klimawandel und Abholzung der Regenwälder, Artensterben und Pandemien, Konsumexplosion und Plastikmüll, Mobilitätskrise, Welternährung und lebenswerte Städte: Ulrich Eberl liefert in seinem neuen Sachbuch eine Zusammenschau der größten Krisen und zeigt die wichtigsten Hebel der Wissenschaft auf, um diese global zu lösen.
© Peter Hassiepen, Piper Verlag.jpg