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Mobilität

Eine kurze Geschichte des Fahrrads

05. September 2024

84 Millionen Fahrräder stehen hierzulande in Garagen und Innenhöfen. Damit hat rein rechnerisch jeder Mensch in Deutschland vom Säugling bis zur Seniorin beziehungsweise zum Senior einen eigenen Drahtesel – immer mehr davon mit elektrischer Unterstützung. Wie sich das Stahlross von seinen Anfängen bis zum modernen E-Bike entwickelt hat, das erzählen wir in unserer kurzen Geschichte des Fahrrads.

 

Mannheim am 12. Juni 1817. Über die Allee, die vom Schloss stadtauswärts führt, steuert ein Herr. Zwischen seinen Beinen ein eigentümliches Gerät. An einem Rahmen aus Holz zwei ebenfalls hölzerne Räder, mit Metall beschlagen. Angetrieben wird das Gerät offenbar per pedes: Immer wieder stößt sich der Herr mit den Füßen vom Boden ab und kommt so erstaunlich schnell voran. Mit 13 bis 15 Stundenkilometern ist er erheblich zügiger als zu Fuß und sogar schneller als eine Postkutsche unterwegs. Der Herr sitzt auf einer Art Sattel und steuert sein Gefährt mit einem Lenker, der an die Deichsel einer Kutsche erinnert. Sein Name: Karl von Drais.

 

Als die Räder laufen lernten

Zu seiner zweirädrigen „Laufmaschine“, wie der erfinderische Forstbeamte selbst das Gefährt nennt, habe ihn das Schlittschuhlaufen inspiriert, wird er später sagen. Das wohl erste lenkbare Laufrad der Welt hat auch bereits einen Gepäckträger hinter dem gepolsterten Sattel und eine Bremse am Hinterrad.

Drais’ Erfindung wird als Alternative zum Reitpferd begeistert aufgenommen und verbreitet sich zunächst in Europa und dann darüber hinaus. Dauerhaft durchsetzen können sich die sogenannte Draisine und die von ihr inspirierten Varianten aber nicht. Die zumeist schlechten Straßenverhältnisse machen die Fahrt zu einer rückenerschütternden Angelegenheit – inklusive Unfallgefahr.

 

Erstmals in die Pedale treten

In den 1860er-Jahren, also rund 50 Jahre später, montieren erstmals findige Tüftler eine Tretkurbel mit Pedalen an der Achse des Vorderrads einer Draisine. Welcher Erfinder die Laufmaschine als Erster zum Treten bringt – das ist heute nicht eindeutig geklärt. Vieles spricht dafür, dass diese Ehre dem Wagenbauer Pierre Michaux und seinem Sohn Ernest gebührt. Gesichert ist: Bei der Weltausstellung 1867 in Paris führt Michaux zwei Exemplare seines Velozipeds vor und erregt damit internationale Aufmerksamkeit. Das Gefährt mit seinem schmiedeeisernen Rahmen wiegt gut über 30 Kilogramm, die Pedale lassen sich je nach Beinlänge verstellen. Gebremst wird über eine Klotzbremse am Hinterrad. Das Vorderrad des Velozipeds ist etwas größer als das Hinterrad – um eine höhere Geschwindigkeit zu erzielen. Denn der Tritt in die Pedale bewegt ja direkt das Vorderrad. Und je größer das Rad, desto weiter die Strecke, die mit einer Pedalumdrehung zurückgelegt werden kann.

Gemeinsam mit den Brüdern Olivier gründet Michaux im Jahr 1868 die Firma Michaux & Co. 300 Arbeiterinnen und Arbeiter bauen hier fünf seiner Michaulinen am Tag. Doch die „Knochenschüttler“, wie sie in der Öffentlichkeit bald spöttisch genannt werden, haben technisch und in Sachen Fahrkomfort immer noch viel Luft nach oben.

 

Gib Gummi

Die Hanlon Brothers, eine englische Artistentruppe, rüsten 1869 erstmals eine Michauline mit Schutzblechen und einer per Hand bedienbaren Vorderbremse aus. Im selben Jahr lässt sich Eugène Meyer in Paris eine Michauline mit Vollgummireifen, Drahtspeichen und Eisenfelge patentieren. Das macht die Fahrt schon spürbar weniger erschütternd als mit den bisherigen metallbeschlagenen Holzrädern. In Serie geht dieses Prinzip erstmals 1871 mit dem „Ariel“ von James Starley. Der technikaffine Angestellte einer Nähmaschinenfabrik im englischen Coventry hat einen weiteren entscheidenden Vorteil der Drahtspeichen erkannt: Mit ihnen lässt sich das Vorderrad weiter vergrößern, ohne dabei erheblich schwerer oder instabiler zu werden. Und größere Vorderräder bedeuten durch den Vorderradantrieb mehr Tempo bei der Fahrradfahrt. Mit seinem „Ariel“ bringt Starley daher das welterste Hochrad auf den Markt: Das Vorderrad hat einen Durchmesser von 127 Zentimetern, das Hinterrad kommt nur als kleines Stützrad daher.

 

Wer hoch sitzt, fällt tief

In England mausert sich das Hochrad bald zum Sportgerät und Statussymbol junger, wohlhabender Männer. Immerhin ist man auf den immer größer werdenden Vorderrädern doch ein unübersehbarer Blickfang auf den Straßen und außerdem auf Augenhöhe mit aristokratischen Reiterinnen und Reitern unterwegs. Die hohe Sitzposition ist allerdings auch ein großes Problem. Schon das Aufsteigen braucht Mut und Geschick. Und sitzt man schließlich im Sattel, kann es bei Unebenheiten schnell und kopfüber wieder nach unten gehen.

Vorausschauende Erfinder versuchen daher, den Sitzschwerpunkt weiter nach hinten und unten zu verlagern, um auf diese Weise die Sicherheit des Rads zu erhöhen. Das „Xtraordinary“ des Nähmaschinenherstellers Singer erreicht das 1878 mit einer nach hinten geneigten Gabel und einem zurückgesetzten Sattel. Ähnlich löst es 1884 das „Kangaroo“ von Hillman, Herbert & Cooper. Sein Vorderrad ist auf 92 Zentimeter geschrumpft – für ein Hochrad nachgerade bescheiden. Dank seines innovativen Kettenantriebs am Vorderrad und der damit verbundenen Übersetzung kann es mit einem Pedaltritt aber die Strecke eines Hochrads mit 142 Zentimeter Raddurchmesser zurücklegen. Das „Kangaroo“ wird als „Dwarf Safety Bike“ schnell populär und vielfach kopiert. Es bleibt aber nach wie vor ein Hochrad und damit eine kippelige Angelegenheit mit allen Nachteilen des Vorderradantriebs. Denn das Vorderrad wird mit jedem Tritt in die Pedale unabsichtlich nach rechts oder eben links ausgelenkt, wenn man nicht aktiv gegensteuert.

 

Sicherheitsrad mit Hinterradantrieb

Thomas Shergold hat daher bereits 1878 ein Fahrrad entwickelt, das über eine Kette an der Hinterachse angetrieben wird. Auf das sturzgefährliche überdimensionierte Vorderrad kann damit verzichtet werden. Das ist nun nur noch so groß wie das Hinterrad. Durch den tieferen Schwerpunkt über dem Hinterrad sitzt man auf Shergolds Sicherheitsrad viel stabiler im Sattel. Und durch den Hinterradantrieb macht das Rad beim Treten lediglich das, was es soll: Es fährt geradeaus.

In den folgenden Jahren experimentieren weitere Erfinder mit dem Hinterradantrieb. Den Durchbruch bringt aber erst der „Rover“ – zu deutsch: Wanderer – von John Kemp Starley, dem Neffen von James Starley. In der Anordnung seiner Bedienelemente, dem gebogenen Lenker, dem höhenverstellbaren Sattel und eben seinem Hinterradantrieb wird das „Rover III“ von 1888 zum Prototyp des modernen Fahrrads.

 

Aufgepumpte Diamanten

Im selben Jahr erfindet der irische Tierarzt John Boyd Dunlop den Luftreifen mit Fahrradventil. Sozusagen zum zweiten Mal. Schon 1845 hatte der Engländer Robert William Thomson das Patent auf einen luftgefüllten Reifen erhalten. Doch die noch unausgereifte Erfindung war bald wieder in Vergessenheit geraten.

Dunlops Luftreifen können sich Unebenheiten auf der Fahrbahn deutlich besser anpassen als die gängigen Vollgummireifen und machen das Radfahren so deutlich bequemer. Als Thomas Humber dann 1890 den Diamantrahmen einführt, ist die Grundarchitektur des Fahrrads quasi komplett. Der Diamantrahmen besteht aus zwei Dreiecken: Eines davon bilden die Rohre am Hauptrahmen vorne, das andere die Rohre am Hinterbau. Der Vorteil des Diamantrahmens: hohe Stabilität bei geringem Materialaufwand. Das macht Räder leichter und kostengünstiger und damit immer populärer und massentauglicher.

 

Zwischen Rücktritt und Kettenschaltung

Im Jahr 1903 bringt die Firma Fichtel & Sachs die Freilaufnabe mit Rücktrittbremse auf den Markt. Bei der Fahrt bergab muss man nun nicht länger mittreten, und das Rad kann bequem über das Rückwärtstreten der Pedale gebremst werden. Zwei Jahre später folgt dann eine Nabenschaltung. Insbesondere in Deutschland mausern sich Nabenschaltung und Rücktritt bald und über Jahrzehnte zum Standard von Stadträdern für Groß und Klein.

Die erste Kettenschaltung wird 1906 von Paul de Vivie entwickelt. Der Herausgeber einer Fahrradzeitschrift experimentiert mit unterschiedlich großen Kettenblättern am Hinterrad und entwickelt einen Umwerfer, der die Kette von dem einen auf das andere Kettenblatt lenkt. Bis zur ersten alltagstauglichen Kettenschaltung braucht es dann noch 40 Jahre. 1946 kommt die „Campagnolo Corsa“ auf den Markt, deren Bau- und Funktionsweise zur Blaupause für die Schaltung am Rennrad wird.

In seinen Grundelementen ist das Fahrrad damit technisch komplett – aber natürlich noch lange nicht ausentwickelt.

Hier lesen Sie die Fortsetzung der kurzen Geschichte des Fahrrads.

Entdeckt, erklärt, erzählt: Der Podcast von #explore