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Digitalisierung

Eine App für alles

28. November 2024

Nachrichten schreiben, Essen ordern oder einkaufen mit nur einer App: In Asien sind sogenannte Super-Apps extrem populär. Doch auch westliche Techunternehmen wollen ihr Angebot zum digitalen Schweizer Taschenmesser ausbauen. Welche Alles-Apps es bereits gibt, was sie können und ob sie tatsächlich auch in den USA und Europa erfolgreich sein könnten – ein Überblick.

 

Als Elon Musk 2022 Twitter übernahm, verkündete er hochfliegende Ausbaupläne: Der Kurznachrichtendienst solle unter seinem neuen Namen „X“ zu einer Super-App weiterentwickelt werden, die man quasi nicht mehr verlassen müsse, um diverse Dinge des täglichen Lebens zu erledigen. „Umfassende Kommunikationsmöglichkeiten“ sollten der Plattform hinzugefügt werden, schrieb der Chef von Tesla und SpaceX dann zur offiziellen Umbenennung im Juli 2023. Nutzende würden außerdem die Möglichkeit bekommen, ihre „gesamte finanzielle Welt“ über die X-App organisieren und betreiben zu können. Ein Plan, den Musk schon einmal Anfang der 2000er-Jahre verfolgte – mit seiner damaligen Plattform X.com.

Nun gilt der reichste Mann der Erde als Ankündigungsweltmeister, dessen superlativische Pläne gerne einmal später und kleiner verwirklicht werden als ursprünglich versprochen. Kaum überraschend geht es mit dem Ausbau zur Super-App auch langsamer voran als anvisiert. Doch die ersten größeren Weichen hat das Unternehmen bereits gestellt: Bis einschließlich August 2024 hat X in insgesamt 33 US-Bundesstaaten die Lizenz als Zahlungsdienstleister bekommen. Falls die übrigen 17 Bundesstaaten auch grünes Licht geben, können sich die Nutzenden über die Plattform unter anderem gegenseitig Geld schicken.

 

Vorbild WeChat

Erklärtes großes Vorbild der Musk’schen Super-App ist das chinesische WeChat. 2011 ursprünglich als WhatsApp-Konkurrent gestartet, hat sich die App des chinesischen Techriesen Tencent im Reich der Mitte längst zum unverzichtbaren digitalen Schweizer Taschenmesser für alle Lebensbereiche entwickelt. Über die Bezahlfunktion WeChat Pay schicken über eine Milliarde Nutzende einander Geld oder bezahlen online oder in analogen Geschäften. Über die Jahre hat der Konzern in andere große Unternehmen investiert und deren Dienste über sogenannte Lite-Apps in WeChat integriert: So können etwa Essen, Taxis oder Kinotickets geordert werden, ohne die App zu verlassen. Durch die Integration öffentlicher Dienste können selbst Stromrechnungen oder Strafzettel bezahlt werden.

 

Line in Japan, KakaoTalk in Südkorea

WeChat ist die größte, aber nicht die einzige Super-App im asiatischen Raum. 70 Prozent der Bevölkerung Japans nutzen Medienberichten zufolge die App Line. Auch Line kam 2011 als Messaging-Anbieter auf den Markt und hat sich seitdem in jene Geschäftsbereiche ausgedehnt, die WeChat in China weitestgehend dominiert. Neben einer Bezahlfunktion können Nutzende in Line etwa Nachrichten lesen, Klamotten kaufen, Arzttermine buchen und digitale Impfpässe aufbewahren.

In Südkorea heißt der Platzhirsch-Dienst KakaoTalk, der 2022 von 47 Millionen der 52 Millionen Einwohnenden des Landes genutzt wurde. Wie WeChat und Lime bietet auch die 2010 gestartete Applikation KakaoTalk ihren Nutzenden diverse weitere Services an – teils innerhalb der App, teils über verknüpfte eigenständige Anwendungen.

 

Kritische Konzentration

Die Kehrseite einer solchen Funktionskonzentration: Je unverzichtbarer sich eine App macht, desto schwerer wiegt ihr Ausfall. Als im Oktober 2022 ein Datenzentrum von KakaoTalk brannte, sorgte das für landesweites Chaos und legte Teile der Wirtschaft lahm. Selbst Staatspräsident Yoon Suk Yeol meldete sich daraufhin zu Wort und sprach von einem „fatalen Schlag für die nationale Sicherheit“.

Selbst wenn es seitdem nicht mehr zu einem App-Blackout gekommen ist: Ob sich der Erfolg der Allzweck-Applikationen tatsächlich in westlichen Industriestaaten reproduzieren lässt, daran gibt es durchaus Zweifel.

 

Und was ist mit Super-Apps im Westen?

WeChats Siegeszug in China hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass US-amerikanische Digitalriesen wie Facebook, Instagram oder X dort verboten sind, also als Konkurrenz entfallen. Und China und andere Schwellenländer, in denen sich die Super-Apps durchgesetzt haben, sind sogenannte Mobile-First-Gesellschaften. Viele Menschen dort haben oder hatten keine Kreditkarte, aber eben ein Smartphone, das ihnen erstmals die Möglichkeit zum internetbasierten Bezahlen eröffnete. In den USA und in Europa mit ihren etablierten Bank- und Kreditkartensystemen sind Bedarf und Nachfrage nach mobilen Bezahlsystemen dagegen ungleich kleiner. Neue Anbieter müssen sich hier erst einmal gegen Visa und Mastercard ebenso wie PayPal und Co. durch größeren Komfort oder bessere Konditionen behaupten und dabei das Vertrauen potenzieller Kundinnen und Kunden gewinnen.

 

Strengere Regulierung für Datenschutz und Bezahldienste

Aber auch das striktere Kartellrecht und strenge regulatorische Vorschriften für Bankgeschäfte und Bezahldienstleistungen stehen dem Wachstum einer Super-App in den USA und Europa entgegen. Insbesondere in der EU kommen scharfe Datenschutzregeln hinzu – und die traditionell größere Skepsis der Nutzenden, einem Techunternehmen auf einen Schlag alle sensiblen Daten anzuvertrauen.

Und nicht zuletzt: Eine Super-App aus dem Stand aufzubauen ist ein so gewaltiges wie gewagtes Unterfangen mit sehr ungewissem Ausgang. Heute erfolgreiche Allzweck-Apps sind allesamt Anfang der 2010er-Jahre, also in den Pioniertagen der Smartphone-Ära, groß geworden und konnten in der Folge ihre bereits etablierte Nutzerbasis durch weitere Angebote ausbauen. Doch diese Zeiten, wo wenige Apps einem wachsenden Hunger nach digitalen Dienstleistungen gegenüberstanden, sind lange vorbei.

 

Eine Super-App braucht superviele Nutzende

Musks Ansatz, seine Super-App auf der bestehenden Nutzerbasis seines Kurznachrichtendienstes aufzubauen, ergibt vor diesem Hintergrund grundsätzlich Sinn. Doch auch wenn X zu den bekanntesten sozialen Netzwerken zählt, ist es dabei ungleich kleiner als Facebook, Instagram, TikTok und eben auch WeChat. Die Plattform hat durch Musks ruppige Umstrukturierungsmaßnahmen, in deren Zuge Hetze, Hassrede und Fake-News zugenommen haben, außerdem Vertrauen, Werbekundschaft und Nutzende verloren. Nicht gerade die allerbesten Voraussetzungen, um sich als Super-App auf die Smartphones von Abermillionen neuen Userinnen und Usern zu spielen und dort unverzichtbar zu machen.

Zusätzlich fällt der vermeintliche Komfort- und Zeitgewinn, den die Apps für alles versprechen, für westlich sozialisierte Konsumentinnen und Konsumenten möglicherweise überschaubar aus – davon ist etwa der Digitalexperte Nicolas Zahn überzeugt. Zahns Argumentation im Finanzmagazin „The Market“ lässt sich so zusammenfassen: Wettbewerb belebt, Monopol macht dagegen träge und die Multifunktionalität halb gar. „Die Verbraucherinnen und Verbraucher werden glücklicher sein“, ist sich der Experte sicher, „wenn sie aus einer Vielzahl digitaler Dienste für eine bestimmte Aufgabe wählen können, als wenn sie in einem Ökosystem gefangen sind, das nur mittelmäßige Dienste anbietet.“

Apps für alles wären in dieser Perspektive so etwas wie der Lieferimbiss, bei dem man neben Döner auch Burger und Pizza bekommt: Für fast jede und jeden ist etwas dabei – aber beim nächsten Mal bestellt man lieber wieder beim Burgerprofi oder beim echten Italiener.

 

Entdeckt, erklärt, erzählt: Der Podcast von #explore