11. Oktober 2018
55.000 IT-Experten fehlen aktuell auf dem deutschen Arbeitsmarkt, hat der Branchenverband Bitkom ermittelt. Die ReDI-School in Berlin will den Fachkräftemangel mildern und zugleich die Integration vorantreiben. Geflüchtete Menschen können hier Programmieren lernen oder ihre digitalen Kompetenzen erweitern.
Beamer und Leinwand sind bereits aufgebaut. Nun schiebt Claus Schaale mit einigen Helfern die Tische vor der hübschen Backsteinwand zusammen. Die Teilnehmer klappen ihre Laptops auf. Dann kann der Kurs zum „Internet of Things“ starten. Das Innovation Center des Netzwerkausrüsters Cisco in Berlin hat sich heute einmal mehr in den Außenposten der ReDI-School, der „School of Digital Integration“, verwandelt.
Diese Schule mit Stammsitz im Stadtteil Mitte ist eine gemeinnützige Einrichtung, an der Geflüchtete Programmieren lernen oder ihre digitalen Fähigkeiten ausbauen können. „Die meisten unserer Studierenden kommen aus dem IT-Bereich. Viele haben einen Universitätsabschluss in Informatik, etwa einen Master, einige einen PhD. Die Mehrheit spricht auch flüssig Englisch und relativ gut Deutsch“, erzählt Schaale. Asma zum Beispiel, die heute zum ersten Mal hier ist. Dass sie erst drei Jahre in Deutschland ist, hört man der syrischen Informatikerin nicht an. Sie habe viele Jahre in einem Kommunikationsunternehmen gearbeitet, erzählt Asma. Nun will sie ihre Programmierkenntnisse auffrischen, um dann im IT-Bereich wieder eine Arbeit zu finden.
© Stefanie LoosDigital ist besser: An der ReDI-School lernen Geflüchtete Programmieren, erweitern ihre digitalen Fähigkeiten und knüpfen Kontakte zu Start-ups oder Unternehmen wie Microsoft, Bosch und Cisco.
Kontakte in die Tech-Szene
Wasim Aboalola, der den Kursteilnehmern gerade vorführt, wie die Datenbrille funktioniert, ist schon einen Schritt weiter. Bei seiner Flucht aus Syrien musste er nicht nur seine Frau und seinen Sohn zurücklassen, sondern auch seinen Job in einer Bank, in der er im IT-Bereich arbeitete. In Deutschland startete er wieder bei null. Also besuchte Aboalola die ReDI-School, absolvierte im Anschluss ein Praktikum und bekam darüber einen Job als Netzwerkingenieur bei Cisco. Letzteres ist eines von mehreren Unternehmen, die mit der ReDI-School zusammenarbeiten. Sie unterstützten die Schule nicht nur finanziell, sondern bieten Praktikumsplätze und stellen ehrenamtliche Lehrer wie Claus Schaale, der im Alltag eigentlich für das Business Development zuständig ist.
© Stefanie LoosAnne Kjær Riechert, Mitgründerin und Geschäftsführerin der ReDI-School.
Krieg, Flucht und Vertreibung hat der gebürtige Chilene Schaale selbst nie erlebt. Aber eine Erfahrung teilt er mit seinen Schülerinnen und Schülern. „Ich habe immer wieder in anderen Ländern gearbeitet. Ich verstehe, was es heißt, wenn du ein starkes Netzwerk hast und dann plötzlich komplett von vorne anfangen musst.“ Diese Lücke will die ReDI-School schließen – indem sie schon während der Kurse Kontakte zu Start-ups oder Unternehmen wie Microsoft und Bosch vermittelt. „Denn in der Tech-Branche zählt nicht nur, was man kann, sondern immer auch, wen man kennt“, sagt die Mitgründerin der Schule, Anne Kjær Riechert. Der persönliche Kontakt bei Unternehmensbesuchen oder Netzwerk-Events hilft auch dabei, unbewusste Vorurteile bei Personalern abzubauen. Denn Menschen, die nicht „Meier“ oder „Müller“ heißen oder auf ihrem Bewerbungsfoto ein Kopftuch tragen, werden bei schriftlichen Bewerbungen oft immer noch benachteiligt.
Digitale Talentschmiede
Dabei ist der Bedarf an Fachkräften enorm. 55.000 IT-Experten fehlten 2017 auf dem deutschen Arbeitsmarkt, ermittelte der Branchenverband Bitkom. Für Riechert ist die ReDI-School deshalb eine Initiative, die allen zugutekommt – Geflüchteten, Gesellschaft und Unternehmen: „Deutschland braucht gelungene Integration, und die deutsche Industrie benötigt IT-Talente.“
Talente wie Sana Abo Helal. Vor ihrer Flucht vor dem Krieg in Syrien hatte Abo Helal in Aleppo ihren Bachelor in Informatik gemacht. Als sie 2016 nach Deutschland kam, suchten sie und ihr Mann nach Möglichkeiten, ihre Fähigkeiten zu verbessern – und stießen auf die ReDI-School. Hier belegt auch sie den Kurs von Claus Schaale. Und der hat ihr Talent ziemlich schnell erkannt. „Sana hat den ersten Blockchain-Prototypen entwickelt, der bei Cisco Deutschland entstanden ist“, erzählt Schaale, immer noch sichtlich beeindruckt. Wo Entwickler mit jahrzehntelanger Berufserfahrung ehrfurchtsvoll zurückschreckten, legte die 25-Jährige einfach los. Die Idee: eine Website, über die vernetzte Geräte und die von ihnen produzierten Datenströme vermietet werden sollen. „Diese Vermietung wird entsprechend automatisiert über die Blockchain abgewickelt, die mit den Geräten kommuniziert“, erklärt Abo Helal. Mittlerweile absolviert sie ein einjähriges Praktikum bei Cisco, und auch ihr Mann hat bereits einen Job gefunden. „Nach nur einem Jahr in Deutschland sind wir nicht mehr auf Sozialleistungen angewiesen, haben neue Freunde gefunden und ein Netzwerk aufgebaut“, erzählt die junge Frau.
© Stefanie LoosHands on: Wasim Aboalola führt den Teilnehmern des Kurses „Internet of Things“ nicht nur die Datenbrille, sondern auch die Funktionsweise anderer vernetzter Geräte vor.© Stefanie LoosDigitale Talentschmiede: Sana Abo Helal hat bei Netzwerkausrüster Cisco den ersten Blockchain-Prototypen der Firma in Deutschland entwickelt.
Und Abo Helal ist keine Ausnahme. Erst im September 2018 haben Riechert und ihre Mitarbeiter 350 Absolventen befragt, wo sie heute stehen. Geantwortet hat rund die Hälfte. Rund 80 Prozent von ihnen sind entweder in einem bezahlten Job, einem Praktikum, einem Mini- oder Teilzeitjob oder arbeiten als Freelancer oder Entrepreneure. 20 Prozent sind wieder an der Universität eingeschrieben, um ihr unterbrochenes Studium fortzusetzen oder einen Master zu machen. „Die Leute, die noch keine Arbeit gefunden haben, machen meistens bei uns weiter, bis sie die Kompetenzen haben, um zurück an die Universität zu gehen oder einen bezahlten Job zu bekommen“, erzählt Riechert.
Ein Programmierer ohne Laptop
Auf die Idee zur Gründung der ReDI-School brachte Riechert die Begegnung mit einem Softwareingenieur aus Bagdad, den sie in einer Flüchtlingsunterkunft kennenlernte. Sein Problem: Er hatte seit zwei Jahren keinen eigenen Rechner mehr. Um nicht den Anschluss in seiner Branche zu verpassen, arbeitete er an den Computern in öffentlichen Bibliotheken. Doch die waren alt, langsam und ständig besetzt. Riechert suchte nach einem Weg, um sein Problem grundsätzlicher zu lösen – und gründete gemeinsam mit anderen die ReDI-School. Ein Spendenaufruf bei der Berliner „Langen Nacht der Startups“ brachte die ersten Laptop-Spenden, mit denen eine Pilotklasse im Herbst 2015 den Unterricht begann. Im Februar 2016 ging es dann offiziell mit 42 Studierenden los.
© Stefanie LoosWer programmiert, gestaltet damit auch die Welt: Fast alle Lebensbereiche sind zunehmend von Programmcodes durchzogen.
Zweieinhalb Jahre später büffeln rund 400 Schülerinnen und Schüler Java, Python oder CSS. 150 davon sitzen in München, wo die Schule im Sommer 2017 eine Zweigstelle eröffnet hat. Unterrichtet werden sie von ehrenamtlichen Coaches und Mentoren aus der Tech-Branche, die hauptberuflich Coder, Developer und Webdesigner sind. Unter den Studierenden sind auch einige Deutsche, die sich ein Coding-Bootcamp sonst nicht leisten könnten. „Wir sind eine Schule für digitale Integration – und die funktioniert am besten, wenn Einheimische gemeinsam mit Neuangekommenen lernen und arbeiten“, so Riechert. Geht es nach der gebürtigen Dänin, werden auch in Hamburg und Frankfurt Schulen entstehen. Das Interesse an dem Konzept ist jedenfalls enorm. Alle paar Tage flattert eine neue Anfrage ins E-Mail-Postfach, ob sie nicht in Korea, Brasilien oder Jordanien eine ReDI-School eröffnen wollen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat der Schule schon ebenso einen Besuch abgestattet wie Facebook-Gründer Mark Zuckerberg.
Per App durch den Bürokratiedschungel
Neben konkreten Programmierfähigkeiten und Kontakten will die ReDI-School gerade den digitalen Einsteigern Kernkompetenzen vermitteln, die in der Tech-Branche gefragt sind. „Die wichtigste Voraussetzung ist die Fähigkeit, kreative Lösungen für konkrete Probleme zu entwickeln. Daher verstehen wir die ReDI-School auch als Plattform für kreative Problemlösungen.“ Am Anfang einer Unterrichtseinheit steht deshalb meist ein Design-Thinking-Workshop. Die Teilnehmer beschäftigen sich hier mit der Frage „Was ist im Alltag meine größte Herausforderung und kann ich eine App oder Website entwickeln, um dieses Problem zu lösen?“, so Riechert.
© Stefanie LoosDank der finanziellen Unterstützung einiger Unternehmen können Datenbrillen nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis behandelt werden.
Für Munzer Khattab lag die größte Alltagshürde auf der Hand: die deutsche Bürokratie. Deshalb hat der junge Syrer mit fünf Mitstreitern Bureaucrazy gestartet: eine App und eine Website, die Wege durch den Behördendschungel bahnen sollen, indem hier Antragsformulare und Erklärungen übersetzt werden. Und die wie eine Art Sendungsverfolgung für den Papierkrieg nachvollziehbar machen, welche Unterlagen wann und wo für welchen Antrag eingereicht werden müssen, wie lange die Bearbeitung voraussichtlich dauert und mit welchen Schritten es danach weitergeht.
Eine Idee, die nicht nur bei vielen Geflüchteten gut ankommt. Als verschiedene Medien das Projekt publik machten, meldeten auch zahlreiche Deutsche dringenden Bedarf an einer solchen App an, die ihnen durchs Behördendickicht hilft, erzählt Riechert. „Für mich ist das ein tolles Beispiel, wie geflüchtete Menschen mit einem frischen Blick von außen Möglichkeiten entdecken und Ideen entwickeln, die allen zugutekommen können.“