8. März 2017
Was muss ein „Haus der Zukunft“ leisten, um die gesteckten Klimaziele zu erreichen und einen Baustein zur persönlichen Energiewende zu liefern? In Stuttgart erproben Architekten und Ingenieure in einem „Aktivhaus“, welche Technologien den Menschen in seinem Zuhause unterstützen und gleichzeitig Energie sparen und erzeugen können – und drehen dabei auch schon mal versehentlich den Strom ab.
Kein Fingerprint, kein Gesichts-Scan, keine Spracherkennung: Frank Heinlein gibt sich mittels eines Schlüssels mit RFID-Technik als Hausherr des Aktivhauses B10 zu erkennen. Und das Haus, gewidmet dem Wohnen der Zukunft, gewährt ihm Zutritt. „Über eine App würde das übrigens auch funktionieren – aber den Schlüssel hatte ich gerade zur Hand“, kommentiert Heinlein. Er arbeitet für das Stuttgarter Architekturbüro Werner Sobek, welches das „Aktivhaus“ geplant und entworfen hat.
© Architekturbüro Werner SobekDas „Aktivhaus B10“ steht im Stuttgarter Norden in der Weißenhofsiedlung.
Sachlich-modern steht das einstöckige Haus in Stuttgarts Norden in der berühmten Weißenhofsiedlung, die von Bauhaus-Architekten wie Walter Gropius und Mies van der Rohe in den 1920er-Jahren errichtet wurde. Ein Bungalow: drei Wände und eine Glasfront. So weit, so konventionell. Weltweit einzigartig ist jedoch, was sich im Inneren abspielt: Durch eine ausgeklügelte Technik wird im Haus doppelt so viel Energie erzeugt, wie es benötigt und verbraucht. Die überschüssige Energie kann beispielsweise zum Betanken der dazugehörigen Elektrofahrzeuge und E-Bikes sowie zur Energieversorgung der Nachbarschaft genutzt werden. Seit das Aktivhaus ab Juli 2014 in Betrieb ist, erproben Forscher und Hersteller aus der Baubranche hier weitere Technologien und Materialien, um die Themen Energie, Wohnen und Mobilität noch effizienter miteinander zu verknüpfen.
© Andreas HennIm Inneren der 70 Quadratmeter großen Einraumwohnung verstecken sich hinter der mit Nussbaumholz vertäfelten Wand die Küche, eine Dusche und das WC. Garage und Wohnraum verschmelzen optisch miteinander.
Parkplatz in der Wohnung
Über die Holzplanken der Terrasse gelangen die Besucher ins Hausinnere. Ein Wohnraum, ein Bad, eine Garage – spektakulär wirkt das Haus der Zukunft auf den ersten Blick nicht. Ungewöhnlich ist allerdings schon die Raumaufteilung: Der Eingang führt direkt in die Garage, die nur durch eine drei Finger dicke verschiebbare Wand mit Glasschiebetür vom Wohnzimmer getrennt ist. Auf diese Weise bleibt die Temperatur im Innenraum des hier geparkten Elektro-Smarts stets angenehm – das Aufheizen nach dem Einsteigen im Winter entfällt ebenso wie das Kühlen im Sommer. „Das spart Energie und erhöht damit auch die Reichweite des Fahrzeugs“, erläutert Frank Heinlein.
© Architekturbüro Werner SobekIn zwei fast gänzlich vorgefertigten Teilen wurde das Haus angeliefert und per Kran auf das Untergerüst aus Stahl gehievt. Dauer des Aufbaus: ein Tag. Die Module sind so konzipiert, dass sie bei Bedarf an anderen Standorten aufgestellt oder zu Mehrparteienhäusern kombiniert werden können.© Andreas HennNeben dem großen Wohnraum enthält das Gebäude eine Küchenzeile und eine Dusche sowie WC. Die Türen zu den Räumen lassen sich per App oder elektrische Türöffner aufschieben.© Andreas HennIm Aktivhaus ist Platz für ein Elektrofahrzeug. Das Auto lässt sich auf einer um 360 Grad drehbaren kreisrunden Plattform parken. Dadurch lässt sich auf dem begrenzten Raum das lästige Wenden im Rückwärtsgang vermeiden. „Hier geht es weniger um Effizienz als um Nutzerfreundlichkeit“, so Frank Heinlein.© Andreas HennDas Elektrofahrzeug kann direkt im Gebäude im Gebäude aufgetankt werden – mit aus regenerativen Quellen selbst gewonnener Energie.
Die Einraumwohnung umfasst inklusive Auto-Stellplatz etwa 70 Quadratmeter. Heinlein nimmt an einem großen weißen Tisch Platz und hängt seinen Mantel über den Stuhl, eine Garderobe gibt es nicht. Ebenso wenig einen Schlafbereich. Das hat seine Gründe. „Wir haben uns im Laufe des Projekts dagegen entschieden, dass im Aktivhaus jemand wohnt. Wir wollten uneingeschränkten Zugang für Forscher und Besichtigungen ermöglichen“, sagt Heinlein. „Denn das ,B10‘ ist eher Experimentalgebäude als Musterhaus.“ Statt massenkompatible Lösungen für das Wohnen der Zukunft zu schaffen, geht es den Architekten in diesem Fall vorrangig darum, Denkanstöße zu geben und Diskussionen auszulösen. Das Aktivhaus wird daher für Besprechungen, Konferenzen und als Vorzeigeobjekt genutzt.
Energie verteilen und weitergeben
In dem hellen, durch die Glasfront großzügig wirkenden Raum fällt der Blick auf die modern mit Nussholz vertäfelte Wand an der Längsseite – sie ist ein Hingucker mit Funktion. Denn dahinter befindet sich neben Küche, Dusche und WC das technische Energie-Herzstück des Hauses: Die Hydraulik-Matrix, ein etwa eineinhalb Meter breites Modul aus dicken schwarzen Rohren steuert mit jeder Menge Ventilen und Manometern, wann welcher Lieferant angezapft und wie die Energie verteilt wird. Und sie „entscheidet“, ob die Energie gleich genutzt, zum Laden von E-Fahrzeug oder Hausbatterie benötigt wird oder zur Weitergabe an Abnehmer in der Nachbarschaft zur Verfügung steht. Erzeugt wird der Strom auf dem Dach, wo eine kombinierte Anlage aus Photovoltaik und Solarthermie montiert ist. Die beschränkte Fläche wird so optimal ausgenutzt.
© Andreas HennFrank Heinlein erklärt #explore-Autorin Julia Holzapfel das technische Herzstück des Hauses: die Hydraulik-Matrix. Das etwa eineinhalb Meter breite Modul aus dicken schwarzen Rohren steuert die verfügbare Energie im Haus und entscheidet, ob die gewonnene Energie zum Beispiel zum Laden des Fahrzeugs oder für die Hausbatterie benötigt wird, oder zur Weitergabe an Abnehmer in der Nachbarschaft zur Verfügung steht. Ermöglicht wird das, indem das System sämtliche Erzeuger von Wärme und Kälte direkt miteinander koppelt.
Beheizt wird das Gebäude mit einer Wärmepumpe, die auf einen Eisspeicher und eine Solaranlage als Energiequelle zurückgreift. „Diese Variante hat gut funktioniert, aber ein gewisses Maß an Flexibilität vermissen lassen“, resümiert Heinlein nach zweieinhalb Jahren Projektlaufzeit. Bei einem künftigen Modellbau würden sich die Architekten aus heutiger Sicht wohl für eine Luft-Wasser-Wärmepumpe entscheiden. Dieser Einschätzung liegt die prinzipielle Frage zugrunde, ob für energieeffizientes Wohnen lieber Wärme oder Strom gespeichert werden sollte. „Bei ,B10‘ haben wir ein kombiniertes System – künftig würden wir vermutlich nur Strom speichern, weil damit der Bedarf an Heiz- und Kühlenergie unseres Erachtens einfacher und mit weniger Aufwand gedeckt werden kann.“ Bis ein derartiges Energiemanagement auf breiter Basis umgesetzt werden könne, seien aber noch diverse rechtliche und organisatorische Fragen zu klären, dämpft Heinlein die Erwartungen.
Technik, die mitdenkt
Per App lassen sich im Haus die Beleuchtung und die Raumtemperatur steuern, Türen oder Fenster öffnen, das Elektroauto auftanken. Die App sei dabei aber mehr als eine Fernbedienung, erklärt Heinlein mit dem Tablet in der Hand. Über Algorithmen versucht die App, Nutzergewohnheiten kennenzulernen und die Energie so effizient wie möglich zu verteilen. Durch eine Synchronisierung mit dem digitalen Kalender der Bewohner soll das System Tagesrhythmen sowie Komfort- und Mobilitätsbedürfnisse erkennen und so das Energiemanagement vorausschauend lenken und anpassen. „Steht beispielsweise im Kalender, dass der Bewohner in zwei Stunden einen Termin hat, wägt das System ab, wann es den Ladevorgang für das E-Auto starten kann und eine anderweitige Speicherung der Energie nicht erforderlich ist, sowie auch, wann die Belüftung oder Wärmeversorgung gedrosselt werden kann“, so Heinlein. Obendrein registriert das Aktivhaus über einen GPS-Sender im Fahrzeug oder auch durch die Haussteuerungs-App, wann die Hausherren sich dem Gebäude nähern, und bereitet entsprechend Raumtemperatur oder Beleuchtung vor.
Auch für die üblichen Bedenken beim Verlassen der Wohnung – Herd und Bügeleisen abgeschaltet? Fenster geschlossen? – hat die App eine Lösung parat: Sie kann von unterwegs bedient werden. Klingt gut, käme da nicht auch mal allzu Menschliches dazwischen. „Ich hab einmal aus Versehen falsche Knöpfe gedrückt und von unterwegs die Steckdosen ausgeschaltet“, erzählt Heinlein, „die Kollegen, die im ,B10‘ eine Besprechung hatten, haben sich dann gewundert, warum ihnen der Saft ausgeht.“
© Andreas HennHaussteuerung per App – egal, ob mit dem Smartphone oder auf dem Tablet: Über die App lassen sich unter anderem die Beleuchtung und die Raumtemperatur steuern, Türen oder Fenster öffnen, das Elektroauto auftanken und sogar mit einem Kalender koppeln, um die Energieeffizienz auf die Lebensgewohnheiten der Bewohner abzustimmen.
Im Team sorgen solche Fern-Zugriffe für Lacher – wenn Fremde sich der Haussteuerung bemächtigen, hört der Spaß allerdings auf. Deshalb ist die App ähnlich gut gesichert wie Online-Banking-Zugänge. Solche hohen Sicherheitsstandards sind mittlerweile eine unabdingbar, da es Cyberkriminellen bereits gelungen ist, sich Zugriff auf Smart-Home-Systeme zu verschaffen. Ohne größeren Aufwand wurde so Licht in Häusern ausgeschaltet, wurden Rollläden hoch- und heruntergefahren und private Photovoltaik-Anlagen vom Netz genommen. Sicherheitslücken können in jedem ans Netzwerk angeschlossene Gerät ohne verschlüsselte Verbindung lauern – vom Kühlschrank bis zum Bluetooth-Schnuller.
Und was passiert in diesem Haus, wenn Smartphone, Tablet und Hausbatterie gleichzeitig den Geist aufgeben? „Es gibt an der Rückseite des Hauses einen Notausgang, über den können Besucher nach draußen gelangen. Die Fenster können mit der Hand aufgeschoben werden“, beruhigt Heinlein.
Recyclingfähige Architektur
Abgesehen von der eingebauten Technik ist „B10“ tatsächlich auch architektonisch eine Besonderheit. Der schwäbische Fertighaushersteller SchwörerHaus lieferte das Haus in zwei fast gänzlich vorgefertigten Teilen an und hievte sie per Kran auf das Untergerüst aus Stahl. Nur einen Tag dauerte dieser Aufbau. Dabei sind die Module so konzipiert, dass sie bei Bedarf auch an anderen Standorten aufgestellt oder zu Mehrparteienhäusern kombiniert werden können. So hält sich die Belästigung der Nachbarn durch Lärm und Schmutz während der Bauphase in Grenzen.
Die Wände sind in Holztafelbauweise gefertigt und mit einer Stoffbahn aus teflonbeschichteter Glasfaser überspannt. Das Textil dient nicht nur dem Wetterschutz, sondern überdies auch einer flexiblen Fassadengestaltung. „Studierende der Stuttgarter Kunstakademie haben gemeinsam mit dem Architekten untersucht, wie die Außenwände mit Stickarbeiten individuell gestaltet werden könnten“, kommentiert Heinlein.
Anlass für die Holz-Textil-Wandkonstruktion ist aber nicht allein die Ästhetik: Weil die Architekten in der Lage sein möchten, das Haus völlig rückstandslos wieder abzubauen, kam ein gängiger Außenputz, der nur schwer in seine Zutaten zu zerlegen ist, nicht infrage. Unbehandeltes Holz von einer aufgespannten Stoffbahn zu trennen ist dagegen simpel. Die zur Dämmung montierten Vakuum-Isolierpaneele lassen sich ebenso leicht wieder abnehmen wie das patentierte Vakuumglas der Fensterfront. Während Konzepte von Mülltrennung und gelbem Sack allseits prima ankommen, werde beim Hausbau das spätere Recycling bisher nicht miteingeplant, gibt Heinlein zu bedenken.
Ursprünglich nur bis 2017 geplant, soll „B10“ jetzt noch weitere drei Jahre genutzt werden. Die bisher gewonnenen Ergebnisse prognostizieren, welche der getesteten Technologien vermutlich bald zum Standard bei Neubauten gehören: „Die Hausbatterie wird kommen – spätestens, wenn zeitabhängige Stromtarife eingeführt werden, wie es sie etwa in Schweden bereits gibt“, so Heinlein.
Als er am späten Nachmittag „B10“ verlässt, schließt Heinlein das Gebäude von außen per Smartphone ab. Obwohl er von unterwegs auf das System zugreifen kann, geht er noch mal zur Glasfront und prüft, ob alles ordnungsgemäß verschlossen ist. Auch der Macher eines Zukunftshauses verlässt sich manchmal eben doch lieber auf seine Sinne als auf eine App.
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ZUR PERSON
© Andreas Henn
Der geborene Berliner Frank Heinlein (57) ist Leiter der Unternehmenskommunikation bei der Firmengruppe Werner Sobek und Geschäftsführer der E-Lab Projekt GmbH. Die Tochtergesellschaft ist Teil der gemeinnützigen Stuttgart Institute of Sustainability Stiftung (SIS), die Methoden und Technologien für nachhaltiges Bauen fördert und entwickelt.
WAS IST „B10“?
Am 8. Juli 2014 wurde das „Aktivhaus B10“ inmitten der Stuttgarter Weißenhofsiedlung fertiggestellt. Zweck des Projekts, das vom Architekturbüro Werner Sobek geleitet wird, ist die Erprobung neuer Technologien und Materialien für das nachhaltige Bauen und Wohnen. „B10“ ist Teil des Projektverbunds „Schaufenster LivingLab BWe mobil“, in dem rund 40 Projekte in den Regionen Stuttgart und Karlsruhe gefördert werden. Als Teil dieses Projektverbunds wird „B10“ vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur im Rahmen der Initiative „Schaufenster Elektromobilität“ unterstützt. Denn das „B10“ generiert über die Photovoltaikanlage auf dem Dach doppelt so viel Energie, wie es selbst verbraucht. Wegen seiner modularen Aufbauweise kann das Haus rückstandslos in seine Bestandteile zerlegt werden. Das Forschungsprojekt wurde nach seinem Standort im Bruckmannweg 10 kurz „B10“ benannt. Interessierte Besucher können sich im „B10“ über das Energiekonzept und die angewandte Bautechnik informieren. Die Daten zur Gebäudeforschung werden kontinuierlich gemessen und an der Universität Stuttgart wissenschaftlich ausgewertet.