15. November 2018
Fabriken, Windräder oder Volksfeste produzieren Waren, Strom oder Spaß – und machen dabei immer auch Geräusche. Damit die den Anwohnern nicht an den Nerven zehren, dürfen gesetzliche Grenzwerte für Geräuschemissionen nicht überschritten werden. Für deren Einhaltung sorgen Schallsachverständige wie Ingo Tzschacksch. #explore war bei der Schallmessung auf der „Wandsbeker Wiesn“ in Hamburg dabei.
Das Stativ steht bereits vor dem prachtvollen Alpenpanorama. Nun macht sich Ingo Tzschacksch daran, das restliche Equipment auszupacken. Doch er will kein Foto der blauen, auf Holz gepinselten Berge schießen. Nicht die Optik, sondern die Akustik ist es, die den Sachverständigen von TÜV NORD im Festzelt der Wandsbeker Wiesn interessiert.
Bevor das größte Oktoberfest Hamburgs mit dem Fass-Anstich eröffnet werden kann, muss Tzschacksch erst sein Okay geben. Denn wer Veranstaltungen wie diese im öffentlichen Raum abhalten will, muss für eine solche „Sondernutzung“ eine ganze Reihe von Auflagen erfüllen. Damit die Anwohner wegen allzu lauter Musikbeschallung nicht etwa nachts aus den Betten gerissen werden, darf die Lärmbelastung bestimmte Grenzwerte nicht überschreiten. Um sicherzustellen, dass dieser „Schutzanspruch“ der Anwohner gewahrt wird, ist Tzschacksch da.
© Selim SudheimerFeierlaune ohne Nebenwirkungen: Damit die Musik im Festzelt nicht die Nachbarn aus dem Schlaf reißt, überprüfen Schallsachverständige im Vorfeld, ob die gesetzlichen Grenzwerte eingehalten werden.
Als Schallsachverständiger überprüft er, ob Industrieanlagen, Fabriken, Sportveranstaltungen oder Volksfeste wie etwa die „Wandsbeker Wiesn“ nicht lauter sind, als es der Gesetzgeber gestattet. Und das ist je nach Ort und Tageszeit verschieden. In Industriegebieten darf es Tag und Nacht bis 70 dB(A) laut werden, in reinen Wohngebieten sind tagsüber 50, nachts nur 35 dB(A) erlaubt. Ausnahmsweise, also bei zeitlich begrenzten Sonderveranstaltungen wie Straßenfesten oder eben hier bei der Wandsbeker Wiesn, darf tagsüber bis zu 70 dB(A) und nachts 55 dB(A) gelärmt werden. Zum Vergleich: Ein Staubsauger bringt es auf 75 Dezibel, Fernseher oder Radio in Zimmerlautstärke kommen auf 60.
Rosa Rauschen im Festzelt
Bevor die Messung starten kann, muss Tzschacksch erst mal das Messgerät kalibrieren. „Die Messabweichung beträgt bei dem verwendeten Klasse-1-Messgerät weniger als 1 dB, was sehr niedrig ist“, erklärt der Experte. Dann schraubt er den Vorverstärker an die Mikrofonkapsel, setzt vorn einen Windball auf, verkabelt Mikrofon und Messgerät – und dann darf der Tontechniker die Anlage aufreißen. Jeder, der gerade die Hände frei hat, stopft sich die Finger in die Ohren. Was da aus den Boxen dröhnt, erinnert entfernt an eine startende Flugzeugturbine.
Technisch gesehen rausche es gerade rosa, erläutert Stefan Goers von TÜV NORD, der die Messung mit begleitet: „Das ,Rosa Rauschen‘ ist ein durch die entsprechende Norm als Testsignal vorgegebenes Frequenzspektrum, bei dem ein durchschnittlicher Mensch alle Frequenzbereiche des hörbaren Schallspektrums als etwa gleich laut empfindet.“ Mittels dieses ,Rosa Rauschens‘ werde geprüft,, wie sich der Schall von der Emissionsquelle, der Musikanlage des Oktoberfests, bis zum sogenannten Immissionsort, den Fenstern der Anwohner, ausbreitetet. Dann kann Ingo Tzschacksch berechnen, wie die Musikanlage eingepegelt werden muss, damit der Grenzwert nicht überschritten wird.
© Selim SudheimerLet’s get loud: Damit es die Anwohner nachher möglichst leise haben, kann es am Arbeitsplatz von Ingo Tzschacksch zunächst mal etwas lauter werden.
Um das zu ermitteln, geht es jetzt mit einem weiteren Mikro hinaus auf die Straße. Der Himmel ist grau über der Wandsbeker Marktstraße. Für den Mittag ist Regen angesagt, aber noch spielt das Wetter mit. Gut so, denn starker Regen und Wind machen die Messergebnisse unbrauchbar, erklärt Tzschacksch, während er das Mikrofonstativ auf der Einkaufsstraße ausfährt. Fünf Meter reicht es in die Höhe, bis zu den Fenstern der Wohnungen in den ersten Stockwerken. Schließlich geht es darum, herauszufinden, was bei den geöffneten Fenstern ankommt.
Dass er gerade hier das Mikrofon aufbaut, ist natürlich kein Zufall. Bevor Tzschacksch zum Lokaltermin ausrückt, hat er sich erst mal anhand von Plänen der Betreiber und Karten der Umgebung ein Bild von der Situation gemacht. „Wo steht die Musikanlage, in welche Richtung wird der Schall abgestrahlt, wo wohnen die Menschen mit einem Schutzanspruch?“, erläutert der Sachverständige. Dann modelliert er das Stadtviertel am Rechner und kann so prognostizieren, wie sich der Schall ausbreitet, vor welchen Wohnungen der Grenzwert am ehesten überschritten werden wird und wo er sein Messgerät entsprechend aufstellen muss. Manchmal erkundet er die Situation mit einer Virtual-Reality-Brille zuvor auch virtuell am Rechner, um noch genauer planen zu können.
Warten auf die nächste Rotphase
„Wir haben jetzt jeweils 20 Sekunden Zeit, um einen exakten Messwert einzusammeln“, erklärt Tzschacksch. Gemessen wird nämlich in den Ampelphasen, wenn der Verkehrslärm ein wenig nachlässt. Die Ampel springt auf Rot, Tzschacksch startet den Messvorgang. Dann heißt es schweigen und hoffen, dass gerade keine kreischenden Kinder oder Passanten mit klappernden Schuhen in die Messung platzen. „Das ist ein ziemlich großes Fahrrad da drüben auf dem Radweg!“, kommentiert Tzschacksch sarkastisch, als ein Harley-Fahrer auf Abwegen durch die Aufnahme knattert. Humor und Geduld sind Eigenschaften, die man als Schallsachverständiger gut gebrauchen kann.
© Selim SudheimerFest justiert: Ist der Limiter eingestellt und die Anlage verplombt, kann auch ein überschwänglicher DJ sie nicht mehr lauter aufdrehen als gesetzlich erlaubt.
Ein paar Rotphasen später nickt Tzschacksch zufrieden. Die Messung passt. Jetzt, wo das Übertragungsmaß ermittelt ist – also die Differenz zwischen dem Schallpegel auf der Bühne und vor den Fenstern der Anwohner –, geht es zurück ins Festzelt. Hier wird der sogenannte Limiter auf den maximal zulässigen Wert außen eingestellt. Dann verplombt der Sachverständige die Anlage. Reißt der DJ im Überschwang der Feierlaune später die Anlage zu weit auf, regelt der Limiter sie sofort wieder so herunter, dass draußen tatsächlich nur 70 dB(A) ankommen, und zwar realitätsnah. Denn bei den Schallmessungen wird die sogenannte dB(A)-Skala angelegt.
Orientiert am menschlichen Höreindruck
„Bei dieser Skala werden die Frequenzen so gewichtet, dass es dem menschlichen Höreindruck entspricht“, erklärt Stefan Goers. Und weil uns manche Geräusche stärker stören als andere, orientieren sich die Schallsachverständigen nicht nur am Messwert, sondern berücksichtigen noch weitere Faktoren. Etwa die Impulshaltigkeit eines Geräusches, wie beispielsweise wummernde Bässe, die den Lärmpegel in kurzen Zeitabständen nach oben treiben. „Musik ist eigentlich immer impulshaltig“, sagt Ingo Tzschacksch. „Erfahrungsgemäß haben wir hier eine Impulshaltigkeit von 3 bis 4 dB. Und das berücksichtigen wir bei der Einpegelung durch einen entsprechenden Zuschlag auf die Messergebnisse.“
© Selim SudheimerMessen ist nur die halbe Miete: Im Anschluss wird sorgfältig dokumentiert, was, wie und unter welchen Bedingungen vor Ort gemessen wurde.
Die Musikanlage im Festzelt wird also noch etwas leiser eingestellt, als es die Messergebnisse nahelegen. Auch die sogenannte Tonhaltigkeit wird von den Sachverständigen mit entsprechenden Zuschlägen berücksichtigt – also etwa schrille E-Gitarren, die an den Nerven der Anwohner zerren. Bei Sportveranstaltungen, Konzerten oder Volksfesten kommt auch noch die Informationshaltigkeit ins Spiel, erklärt Experte Tzschacksch. „Informationshaltigkeit meint Sprachverständlichkeit – also eine Information, die ich nicht haben möchte und die dadurch störend wirkt.“ Denn während sich ein Helene-Fischer-Fan darüber freuen mag, wenn „Atemlos …“ in Mitsing-Lautstärke zu ihm herüberschwappt, empfindet der Metallica-Fan das als ziemlich störend.
Feineinstellung mit Peter Fox
Um zu kontrollieren, ob die Einstellungen passen, geht es zur Kontrollmessung zurück auf die Straße. Getestet wird diesmal mit Musik, wie sie auf dem Oktoberfest gespielt wird. „Kann losgehen“, sagt Ingo Tzschacksch zur Veranstalterin der Wiesn, die mit einem Funkgerät neben ihm steht. „70 dB(A) hätte ich gerne.“ – „Nico, Musik an auf 70 dB(A), bitte“, funkt die Wiesn-Chefin an den Tontechniker im Festzelt. Dann schallt Peter Fox’ „Alles neu“ über die Wandsbeker Marktstraße, momentan noch zu laut. „Ist eine Tür auf?“, fragt der Schallsachverständige. „Nico, sind alle Türen geschlossen?“, fragt die Veranstalterin durch das Funkgerät an. Einen Moment später ist die Musik merklich leiser. „Jetzt passt das“, zeigt sich Tzschacksch zufrieden. „Aber wir messen noch ein paar Mal, zur Sicherheit.“
© Selim SudheimerHoch hinaus: Um möglichst dicht an die Fenster der Anwohner heranzukommen, arbeiten die Schallmesser mit XXL-Stativen.
In der Claudiusstraße, ebenfalls in Festzeltnähe, geht es dann ziemlich schnell. „Erste Messung – zack, Wert! Herrlich!“, sagt Ingo Tzschacksch und lacht. Der nächtliche Grenzwert kann allerdings nicht gemessen werden. Der Schallexperte hat damit schon gerechnet. Denn die Musik aus dem Festzelt geht unter im Verkehrslärm der Wandsbeker Marktstraße. „Der Verkehr liegt – zumindest tagsüber – in der gleichen Größenordnung wie die geforderten 55 dB(A) nachts. Bis die Veranstaltung um 22 Uhr beziehungsweise 24 Uhr schließt, wird das nicht erheblich abflachen.“ Um die lauten Umgebungsgeräusche für das Bezirksamt zu dokumentieren, macht Tzschacksch im Anschluss noch eine Messung ohne Musik. Dann steht von seiner Seite aus der Eröffnung des Oktoberfests in Wandsbek nichts mehr im Wege.
Schallmessung in schwindelnder Höhe
Auch bei Techno-Konzerten oder Autorennen überprüft der Ingenieur die Einhaltung der Grenzwerte. Meist ist er aber bei Industrieanlagen aller Spielarten im Einsatz. Schließlich können deren Lärmemissionen Anwohner dauerhaft belasten. Was den Job für Ingo Tzschacksch so spannend macht: An Orten, wo die meisten Menschen bestenfalls zum Tag der offenen Tür hinkommen, ist er tagtäglich im Einsatz. „Ob Flugzeugbau, Windenergieanlagen, Lebensmittelhersteller, Kaffeeröstereien oder Fahrzeugindustrie – es gibt nichts, wo wir nicht tätig sind. Und das macht unsere Arbeit sehr vielfältig und interessant.“ Dabei berät er die Betreiber auch darin, wie sie ihre Maschinen künftig leiser laufen lassen können, um die Ohren der Anwohner und die ihrer eigenen Angestellten zu schonen.
Oft kommt er dabei noch dichter an viele Anlagen, als es den meisten Menschen geheuer wäre, kraxelt etwa auf einen 60 Meter hohen Schornstein hinauf, um das Geräusch an der Öffnung zu messen. Oder schiebt sich auch mal bäuchlings in die Nabe eines hundert Meter hohen Windrads, um dort zu überprüfen, warum es den Wartungsmechanikern beim Nachziehen der Schrauben oft zu laut ist. Ingo Tzschacksch bringt also im wahrsten Sinne des Wortes etwas mehr Ruhe ins Leben.