1. August 2019
Wollen Kommunen wissen, was den Menschen in ihrer Stadt auf den Nägeln brennt, sind Bürgerversammlungen oder -sprechstunden der gängige Weg. Doch die analogen Veranstaltungen erreichen meist nur einen kleinen Teil der Bürgerinnen und Bürger – und bieten oft nicht genügend Platz für deren eigene Ideen. Immer mehr Städte setzen deshalb auf digitale Plattformen zur Bürgerbeteiligung. Etwa auf Civocracy, gegründet von Chloé Pahud und ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern. Die Idee hinter der Plattform: Nur wenn alle Perspektiven und Ideen gehört werden, kann man gemeinsam bessere Entscheidungen treffen, die allen zugutekommen.
Name:
Chloé Pahud
Alter:
39
Beruf:
Co-Gründer und Co-CEO
Website:
www.civocracy.com
Was ist Civocracy?
Civocracy ist ein „Civic Tech“-Unternehmen, das sich auf digitale Bürgerbeteiligung spezialisiert hat. Kurz zusammengefasst will Civocracy Regierungsstrukturen kollaborativer machen. Überwiegend tun wir das, indem wir lokale Kommunen dazu befähigen, Projekte und Politik gemeinsam mit ihren Bürgerinnen und Bürgern zu realisieren. Wir arbeiten aber auch mit großen Organisationen zusammen, die wir im Bereich Stakeholder-Management und im Aufbau von Strukturen zur abteilungsübergreifenden Entscheidungsfindung unterstützen. Dazu bieten wir eine Onlineplattform sowie Beratungsleistungen an, durch die ein systematischer, effektiver und effizienter Übergang hin zur Bürgerschaftsbeteiligung garantiert werden kann.
Die Welt braucht Civocracy, weil …
… wir gesellschaftliche Strukturen brauchen, die inklusiv sind und fit für die Welt, in der wir leben. Wir sollten Technologie auf eine produktivere, nutzbringendere Weise anwenden. Eine Weise, die den Menschen vermittelt, dass sie gehört werden und dass sie zählen. Entscheidungen, die uns selbst betreffen, sollten auch unsere Perspektive und Expertise einbeziehen. Gleichzeitig sollten wir denen, die Entscheidungen treffen – ob Regierung oder Unternehmen – dabei helfen, Technologie so zu nutzen, dass ihre Arbeit einfacher wird und einen positiveren Effekt hat. Es ist genau dieser systematische Wandel, auf den Civocracy hinarbeitet. Und darum braucht uns die Welt.
„Liquid Democracy“ und digitale Bürgerbeteiligung galten zur Hochzeit der Piratenpartei als Königsweg zu einer direkteren Demokratie. Mittlerweile ist es um die E-Partizipation deutlich ruhiger geworden. Was muss eine Beteiligungsplattform mitbringen, um die Erwartungen von Bürgerschaft und Kommunen gleichermaßen zu erfüllen?
Eine Partizipationsplattform einzusetzen, um damit eine politische Agenda oder einen PR-Zweck zu erfüllen, ist etwas sehr Negatives. Partizipative Entscheidungsfindung sollte eine Veränderung im Denken sein und die Menschen ins Zentrum unserer Institutionen stellen. Eine derartige Plattform sollte transparent sein und einem Zweck dienen. Manager und Regierungen müssen klar durchblicken lassen, warum sie Leute in Entscheidungen einbeziehen möchten und wie lange der gesamte Prozess dauern wird. So kann sichergestellt werden, dass die Beteiligung konstruktiv bleibt und die Menschen am Ball bleiben, auch wenn nach ihren Inputs nicht sofort etwas passiert. Wir wissen, dass diese Art der Entscheidungsfindung eine steigende Nachfrage beantwortet und dass Entscheidungsträger von bereichsübergreifenden Ideen profitieren. Im Netz äußern sich Menschen permanent dazu, was sie von ihrer Stadt und ihrem Arbeitsplatz verlangen. Civocracy stellt einen Ort bereit, an dem man das konstruktiv tun kann, und zwar in einer Form, von der alle Beteiligten etwas haben.
„Unsere Auftraggeber treten mit ihren Communitys in Kontakt – das ist direkter und einfacher, als sie mit einer Organisation zu verknüpfen, von der sie noch nie gehört haben.“
Der Erfolg von Partizipationsplattformen steht und fällt mit einer kritischen Masse an aktiven Nutzerinnen und Nutzern, die Vorschläge einbringen, diskutieren oder bewerten. Wie wird die Bürgerschaft auf Civocracy aufmerksam gemacht, wie der Dialog zwischen den Nutzern gefördert?
Unsere Auftraggeber treten mit ihren Communitys in Kontakt – das ist direkter und einfacher, als sie mit einer Organisation zu verknüpfen, von der sie noch nie gehört haben. Unsere Aufgabe ist es, eng mit unseren Kunden zusammenzuarbeiten, um gemeinsam Kommunikationsstrategien und Zeitpläne zu entwickeln, die jeweils spezifisch auf das Projekt und den Kontext zugeschnitten sind. Das stellt sicher, dass eine kritische Masse an Nutzern aus einem breiten demografischen Feld beteiligt ist. Hier spiegelt sich auch unsere Überzeugung wider, dass ein Tool ohne Wissen nutzlos ist. Daher arbeiten wir hart daran, unsere Auftraggeber zu „empowern“ und ihnen die Expertise zur Verfügung zu stellen, die sie brauchen, um eine konstruktive Bürgerschaft zu managen, zu erhalten und sogar auszuweiten.
Welche Initiativen und Ideen konnten über die Plattform bereits angestoßen und umgesetzt werden?
Es gibt uns seit 2015, und daher sind auch schon einige Initiativen in ganz Europa auf der Basis von Civocracy entstanden. Kürzlich haben wir mit der Region Auvergne-Rhône-Alpes in Frankreich zusammengearbeitet, um lokale infrastrukturelle Herausforderungen zu identifizieren, Ziele für die Entwicklungen der nächsten Dekade zu setzen und eine regional gültige Identität zu entwickeln. Dieser Einsatz brachte über 60 zentrale Verbände und Stakeholder sowie Tausende von Bürgern zusammen. Diskutiert wurden Themen von Landschaftskonservation bis zu ökonomischen Entwicklungen. Die Ideen, die daraus hervorgegangen sind, werden in eine Richtlinie für die regionale Umsetzung integriert. Wir arbeiten auch mit dem europäischen Thinktank Friends of Europe an internationalen Sicherheitsfragen und helfen ihnen dabei, Empfehlungen zu erstellen, die dann an die EU-Kommission, die Vereinten Nationen und die NATO wandern. Durch die Civocracy-Plattform konnten wir Kunden dazu befähigen, eine neue Agenda für Schulen einzuführen (Straßburg), die Biodiversitätspolitik zu ändern (Nordholland) und urbane Räume neu zu entwickeln (Lyon).
Die größte Herausforderung für Civocracy ist …
… eine echte Institutionalisierung für partizipatives Handeln zu garantieren. Um die greifbaren Vorteile dieser Form von Entscheidungsfindung zu beweisen, entwickeln wir derzeit einen Rahmen, um den Effekt zu messen. Auf diese Weise sollen die gesellschaftlichen Effekte von Kollaboration quantitativ demonstriert werden.
In fünf Jahren wird Civocracy …
… in Europa allgegenwärtig genutzt. Sich zu beteiligen wird eine Gewohnheit von vielen Bürgern und Kommunen, genau wie innerhalb größerer Organisationen.
Ohne welche fünf Apps kommen Sie nicht durch den Tag?
Google Maps, Twitter, eBay-Kleinanzeigen, Reminder-App, Duolingo.
Welches digitale Produkt muss erst noch erfunden werden?
Das ist eine schwierige Frage!
Auf welches könnten Sie verzichten?
Mein Telefon! Ich wäre im Verlauf des Tages gerne ein wenig mehr offline, da die permanenten Benachrichtigungen mich ablenken – besonders dann, wenn ich eigentlich im Ruhemodus sein sollte.
Welche technische Anwendung wird Ihnen immer ein Rätsel bleiben?
Snapchat! Ich begreife es einfach nicht.
Wann waren Sie das letzte Mal 24 Stunden offline?
Letzten Juli, während eines Familienurlaubs in Portugal. Es war reine Glückseligkeit.
Urlaub ohne WLAN: Traum oder Albtraum?
Traum.
Im #explore-Format „Steckbrief“ kommen regelmäßig spannende und inspirierende Menschen aus der digitalen Szene zu Wort – Forscher*innen, Blogger*innen, Start-up-Gründer*innen, Unternehmer*innen, Hacker*innen, Visionärinnen und Visionäre.