15. September 2016
Energie-Experte Peter Birkner verrät im zweiten Teil des Interviews wie viel Digitalisierung die Branche braucht und warum er sich für eine nachhaltige Energiezukunft stark macht.
#explore: Muss ein Energieunternehmen heute digital gut aufgestellt sein, um die nötigen Veränderungen zu meistern?
Peter Birkner: Ja und nein. Es stellt sich auch die Frage, wie tief die Wertschöpfung des Unternehmens künftig sein wird und mit welchen Partnern man zusammenarbeitet. Als wir mit der Energiewende begonnen haben, haben wir – etwa überzogen formuliert – gemeint, wir stellen einige Windkraftanlagen auf, montieren einige Solarzellen auf die Dächer und das war es dann im Wesentlichen auch schon. Die großen Unternehmen der Branche haben dann sehr schnell in der bewährten Dimensionen gedacht. Ausbau des Übertragungsnetzes und Errichtung riesiger Off-shore Windprojekte für Nord- und Ostsee, die sich dann aber als sehr komplex und recht teuer herausstellten. Daher ist es nicht verwunderlich, dass das erste durchgreifende Erfolgsmodell der Energiewende die Windkraftanlage im Bereich von zwei bis drei Megawatt auf dem Land wurde. In jedem Fall haben wir das fundamentale Veränderungspotential der Energiewende zumindest am Anfang deutlich unterschätzt und lange in den bisher bewährten Kategorien gedacht. Ordnungspolitisch tun wir dies zum Teil auch noch heute.
#explore: Warum ist diese Drei-Megawatt-Turbine interessant?
Peter Birkner: Weil sie eine signifikante Strommenge erzeugen kann, relativ hohe jährliche Laufzeiten aufweist und zudem in großen Stückzahlen zunehmend standardisiert hergestellt und errichtet werden kann. Dadurch wird sie auf der Kostenseite genauso effizient wie ein großes Kraftwerk, dass als Individuum zwar größer ist, aber eben nur einmal hergestellt wird. Diese Miniaturisierung der Energieerzeugung – ich meine hier den Schritt vom Kernkraftwerk mit 1 300 Megawatt runter zu einer Windkraftanlage mit drei Megawatt – wird meines Erachtens nach weiter fortschreiten. Ich setze hier sehr auf die Solartechnik. In ein paar Jahren werden wir technisch in der Lage sein werden, Funktionalitäten zu koppeln. Das wird die Preise weiter senken.
#explore: Dann wird es die Hauswand sein, die Strom erzeugt…
Peter Birkner: … genauso wie das Dach und vielleicht sogar der Gehweg. Dinge die wir ohnehin brauchen werden auch Energie liefern. Wenn meine Überlegungen stimmen, dann sprechen wir künftig von sehr vielen Erzeugungseinheiten von fünf, zehn oder hundert Kilowatt. Also noch viel, viel kleiner als heute, aber eben dafür an Stellen, wo ohnehin gebaut werden muss. Diese Kleinteiligkeit der Energiewende bedarf einer aktiven Koordination. Im heutigen Energiesystem ist klar, immer wenn die Netzfrequenz stabil ist, sind Angebot und Nachfrage im Gleichgewicht. Falls nicht, greifen Regelkraftwerke ein. Bei extrem vielen kleinen Kraftwerken wird das so nicht mehr funktionieren – sie müssen miteinander aktiv kommunizieren. Deswegen werden sich Energiewende und Digitalisierung aufeinander zu bewegen. Es wird eine digitalisierte Energiewende geben.
#explore: Wie ist das zu verstehen?
Peter Birkner: Das Energiesystem wird in Zukunft zum großen Teil durch filigrane und diverse Strukturen bestimmt sein. Die vielen kleinen Verbraucher und Erzeuger müssen sich daher organisieren, koordinieren und konzertiert agieren. Wenn Sie so wollen wird die Steuerung, die heute innerhalb eines Großkraftwerks abläuft, sozusagen auf das Stromsystem kopiert und dort dezentral durchgeführt. Es ist eine andere Steuerungslogik. Wer eine Solaranlage auf dem Dach hat, kann zwar 100 Prozent seines Stromverbrauchs selbst erzeugen aber davon nur etwa 30 Prozent zum richtigen Zeitpunkt. 70 Prozent müssen also mit dem Netz und damit mit anderen Quellen und Verbrauchern ausgetauscht werden. Eine Batterie reduziert diesen Wert von 70 Prozent auf beispielsweise 30 Prozent. Unternehmen wie Sonnen oder Beegy bieten Besitzern von Solaranlagen und Batterien an über eine sogenannte Community, also virtuelle Pools, diese verbleibenden 30 Prozent zu managen. Die Durchmischung der unterschiedlichen Einspeise- und Verbrauchsmuster erhöht den Autonomiegrad der Community gegenüber den Einzelanlagen. Die Mitglieder unterstützen sich gegenseitig zu Vorzugskonditionen und der „Außenhandel“ wird reduziert. Damit ergeben sich günstige und marktunabhängige Preisstellungen. Das ist eine völlig neue Struktur der Energieversorgung, die unabhängig von der etablierten Energiebranche entsteht.
#explore:Wie stellen sich die netztechnischen Strukturen in Zukunft dar?
Peter Birkner: Nach meiner Überzeugung werden wir künftig in Modulen denken müssen. Das kleineste Modul ist das Gebäude. Als „Prosumer“ wird es eine gewisse zeitliche Autarkie aufweisen. Mangel und Überschuss werden in den übrigen Zeiten physikalisch mit den Nachbargebäuden ausgetauscht. Das Quartier wird damit in Summe einen höheren Autonomiegrad erreichen, da verschiedene Erzeugungs- und Verbrauchsmuster über das Netz gekoppelt werden. . Wenn das nicht genügt, muss die nächste Zelle mit einbezogen werden – die Stadt. Diese wird anschließend mit dem Umland „kommunizieren“. Im nächsten Schritt folgen die Regionen. Schließlich kommen Deutschland und Europa. Hier muss die Energiebilanz in jedem Fall stets ausgeglichen sein. Dies alles ist physikalisch und abrechnungstechnisch abzubilden und auch das geschilderte Community Prinzip muss in dieser Netzstruktur arbeiten können.
#explore:Welchen Autarkiegrad werden die Module aufweisen und wie können sie ihre Aufgabe erfüllen?
Peter Birkner: Energiebilanz ist, desto weniger müssen die vorgelagerten Netze und Systeme leisten. Unabhängig davon müssen die Module miteinander hinsichtlich des erforderlichen Energieaustauschs kommunizieren und auch innerhalb eines Moduls müssen die verfügbaren Stellgrößen, also Erzeuger, Speicher und Verbraucher, so eingesetzt werden, dass der Autarkiegrad maximiert wird. Dafür werden Energie und Kommunikation zusammenwachsen. Doch Kommunikation kann noch viel mehr, Stichworte Industrie 4.0 und autonomes Fahren. Energie ist eben nur ein Aspekt der Digitalisierung.
#explore: Geht Innovation heute immer mit Digitalisierung einher?
Peter Birkner: Nein, innovativ sein heißt nicht notwendigerweise immer auch digital zu sein. Wir müssen im Energiesektor in zwei Kategorien denken: Das eine sind Komponenten, das andere Systeme. Digitalisierung hat für mich primär etwas mit Systemen zu tun, und ein System setzt sich aus vielen Komponenten zusammen. Beispiele hierfür sind Solaranlagen, Batterien, Leitungen aber auch E-Mobilität und Wärmepumpen. Diese Komponenten müssen miteinander sprechen, damit sich das System überhaupt bildet und auch stabil bleibt. Das wäre für mich eine Innovation, in der Digitalisierung eine große Rolle spielt.
#explore: Was ist ein Beispiel für Innovation, in der die Digitalisierung unwesentlich ist?
Peter Birkner: Ich bin überzeugt, dass auch die Materialforschung große Innovationen ermöglicht. Das betrifft die zweite Kategorie, die Komponenten. Je mehr Optionen die Komponenten bieten, desto facettenreicher wird das System. Wenn man sich vorstellt es gäbe Solarzellen mit einem Wirkungsgrad von über 20 Prozent, die im Vergleich zu den bisherigen Solarzellen nur die Hälfte wiegen, die Hälfte kosten und mechanisch extrem robust sind, dann kommen Anwendungen in Reichweit, die bisher ausgeschlossen waren. Wir wären dann viel näher an meinem Szenario in dem Hauswände und Trottoire zu Stromgeneratoren werden. Diese Materialforschung hat im Kern nichts mit Digitalisierung zu tun, ist aber genauso wichtig. Natürlich kommt man auch hier um Digitalisierung nicht herum, wenn die Wissenschaftler Elektronenmikroskope verwenden, aufwendige Simulationen durchführen und Daten über den ganzen Globus übertragen, weil Institute international zusammenarbeiten. Doch die Digitalisierung steht dabei nicht im Zentrum, sondern ist ein unterstützendes Werkzeug.
#explore: Woher rührt Ihre ausgeprägte Leidenschaft für eine innovative Energieentwicklung?
Peter Birkner: Das Thema ‚nachhaltige Energieversorgung’ ist eine der zentralen Aufgaben, die wir auf diesem Planeten lösen müssen. Wir müssen demnächst 10 Milliarden Menschen ein würdevolles Leben ermöglichen. Das geht nur mit einer nachhaltigen Energieversorgung. Zu Zeiten der Jäger und Sammler konnten in einer rein extrahierenden Wirtschaft maximal etwa 10 Millionen Menschen versorgt werden. Wir liegen also um einen Faktor 1.000 über dieser Zahl. In diesem Zusammenhang heißt Nachhaltigkeit für mich, dass wir keine Angst haben müssen, dass uns umgangssprachlich der Strom ausgeht und dass uns die Technologie, die den Strom liefert, um die Ohren fliegt – Stichwort Kerntechnik. Weiterhin ist auf die endliche Verfügbarkeit der Rohstoffe und den Schutz von Umwelt und Klima zu achten. Außerdem hoffe ich, dass wir mit den Bemühungen um mehr Nachhaltigkeit zugleich dazu beitragen, dass auf längere Sicht das Zusammenleben der Menschen auf diesem Planeten ein Stück weit besser wird und wir künftig sorgfältiger mit diesem unserem Planeten umgehen. Es gibt nur eine Erde, und wenn die ausgebrannt und leer ist, haben wir alle ein Problem. Vor diesem Hintergrund ist es in jedem Fall wert, darüber nachzudenken, wie Komponenten entwickelt und zu Systemen kombiniert werden können, die global für die nachhaltige Verfügbarkeit einer ausreichenden Menge von Energie sorgen. Denn ein Stromanschluss in Entwicklungsländern erhöht nicht nur Komfort und Lebensqualität, sondern ermöglicht auch gleichzeitig bessere Bildung und bessere Gesundheit. Im Grunde diskutieren wir nicht die Lösung einer technischen sondern einer ethischen Frage.
#explore: Eine nachhaltige, sichere Energiezukunft ist eine globale Aufgabe. Ist Deutschland mit der Energiewende auf einem guten Weg?
Peter Birkner: Was die Technologie, die Systeme und die intellektuelle Erkenntnis, wie Energiewende funktioniert, betrifft, ist Deutschland auf einem hervorragenden Weg. Dagegen ist die Art und Weise, wie die Energiewende umgesetzt wird zu kritisieren. Den aktuellen ordnungspolitischen Rahmen finde ich bemerkenswert. Wir meinen, mit einem Instrument – wie beispielsweise dem Erneuerbare-Energien-Gesetz – die Entwicklung zentral steuern zu können. Ich glaube nicht, dass irgendjemand – und ich schließe mich hier ausdrücklich ein – heute weiß, wie Energiewende technologisch am Ende des Tages umgesetzt wird. Es wird noch einige Überraschungen auf der Innovationsseite geben. Dennoch versucht Politik die Instrumente zur Umsetzung der Energiewende vorzuschreiben. Dem Klima ist es völlig egal, ob Kohlendioxid auf der Erzeuger- oder auf der Anwenderseite reduziert wird. Wir brauchen Dekarbonisierung – immer weniger CO2 -Emissionen –als politischen Leitgedanken. Der Staat sollte sich auf diesen Prozess konzentrieren und das Finden der Lösung dem Markt, der Wissenschaft, der Industrie und dem Kunden überlassen. Soziale Marktwirtschaft ja, gerne auch ökosoziale Marktwirtschaft aber kein Dirigismus. Wir müssen in Deutschland zeigen, dass Energiewende effizient, effektiv und wirtschaftlich möglich ist. Das ist unsere Mission und daran ist zu arbeiten.
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ZUR PERSON
© „House of Energy“
Peter Birkner ist Honorarprofessor an der Bergischen Universität Wuppertal und unterrichtet am Lehrstuhl für Elektrische Energieversorgungstechnik. Außerdem leitet er das „House of Energy e.V.“ in Kassel, dass zusammen mit Unternehmen, Forschungseinrichtungen, Hochschulen und Universitäten sowie der hessischen Landesregierung die Energiewende in Hessen bezüglich Forschung und Entwicklung voranbringen soll.
Darüber hinaus engagiert sich Peter Birkner in zahlreichen Beiräten, Verbänden und Expertengruppen. Er unterstützt aktuell zwei junge Start-ups – die enersis suisse AG, Bern, und die Athion GmbH, Köln. Peter Birkner ist neben Michael Stelter, stellvertretender Leiter des Fraunhofer-Instituts für Keramische Technologien und Systeme, externer Experte des Innovation Boards des Geschäftsbereichs Industrie Service von TÜV NORD. Das Gremium diskutiert den Stand aktueller Innovationsprojekte und bewertet neue Idee und mögliche Forschungsprojekte.