8. September 2016
Henning Beck ist Neurobiologe, Sachbuchautor und einer der besten Science Slammer Deutschlands. Im Interview verrät er, warum sich auch der beste Computer mit dem menschlichen Gehirn nicht vergleichen lässt und wieso Hirnjogging-Apps überflüssig sind.
#explore: Womit beschäftigen Sie sich aktuell?
Henning Beck: Ein Computer braucht die neuesten Programme mit mehreren zehntausend Bildern, um mit 70-prozentiger Wahrscheinlichkeit zu erkennen: Das muss eine Katze sein. Das ist verdammt schlecht. Mein zweijähriger Nachbar schaut sich eine Katze an und ist zu 100 Prozent sicher, dass er eine Katze sieht, obwohl er sie nur ein einziges Mal gesehen hat. Neulich stand er bei mir im Flur, hat hochgeschaut und gesagt: ‚Oh, ein Rauchmelder.’ Ich bezweifle, dass seine Eltern ihm 100.000 Rauchmelder gezeigt haben, damit er lernt, was ein Rauchmelder ist. Er hat es einmal gesehen und verstanden. Das können Computer nicht. Ich will wissen: Wie macht das Gehirn das? Wie erkennt es Dinge in unserer Umgebung? Wie schafft es einen Zusammenhang, der nicht mehr verloren geht?
#explore: Warum fasziniert Sie dieses Thema?
Henning Beck: Die Suche nach der Antwort auf die Frage, wie Maschinen lernen können – Stichwort Deep Learning – wird von der Wissenschaft sehr gehypt. Dabei vergisst man immer wieder, wie viele Rechenschritte nötig sind, damit sich ein Computer auf eine Situation neu einstellen kann. Das Gehirn braucht sehr viel weniger Rechenschritte – als wüsste es Abkürzungen, um Wissen neu aufzunehmen. Wir kennen diese Geheimgänge nicht. Wenn wir aber diese Tricks verstehen, könnten wir zugleich auch Maschinen und künstliche Intelligenz verbessern. So wie die Computer derzeit funktionieren, sind sie einfach nur dumm, dafür aber sehr schnell dumm.
#explore: Wie können diese Tricks erforscht werden?
Henning Beck: Es gibt ganz unterschiedliche Ansätze. Dazu zählen zum Beispiel neuropsychologische Experimente, bei denen man bei kleinen Kindern mit Hilfe von Eye-Tracking-Verfahren untersucht, wie lange sie bei unterschiedlichen Bedingungen auf etwas schauen. Wann sind sie aufmerksam? Wann erinnern sie sich an etwas? Außerdem kann man die Signale im Gehirn messen, wenn die Hirnzellen sich etwas merken. Werden die verschiedenen Methoden kombiniert, lässt sich gut feststellen, was im Gehirn passiert, wenn wir etwas Neues wahrnehmen und die Welt um uns herum ordnen.
#explore: Welches Themenfeld reizt Sie außerdem?
Henning Beck: Mich interessiert die Frage, wie wir auf neue Ideen kommen. Während das Thema Intelligenz gründlich erforscht ist, herrscht in der Wissenschaft in punkto Kreativität noch etwas Unklarheit. Dabei ist das sehr wichtig, denn die großen Ideen werden in Zukunft nicht digital, sondern analog gedacht. Alle schreien nach Digitalisierung. Dabei vergessen wir, dass die wichtigste Ressource neue Ideen, Innovationen und neue Produkte sind, die nicht von einem Computer, sondern von Menschen entwickelt werden. Was ist dieses analoge Denken? Wie funktioniert analoge Kreativität?
#explore: Verraten Sie die Antworten bald?
Henning Beck: Ja! Ich verspreche natürlich nicht den Heiligen Gral der Neurowissenschaft, aber ich werde zeigen, in welche Richtung die Reise geht. Wir haben gute Ansätze, die wir weiter erforschen müssen. Ich werde erklären, wie Fast Mapping – das Verstehen nach einmaligem Sehen – funktioniert, und warum Ideen analog bleiben sollten und nicht digitalisiert werden können.
„Das Thema künstliche Intelligenz ist sehr stark überschätzt. Die Leute vergessen, dass sie sich mit dem härtesten Gegner der Welt anlegen – nämlich mit dem Gehirn.“
#explore: Trotzdem übernehmen im Zeitalter der Industrie 4.0 intelligente Maschinen immer mehr Aufgaben…
Henning Beck: Das Thema künstliche Intelligenz ist sehr stark überschätzt. Die Leute vergessen, dass sie sich mit dem härtesten Gegner der Welt anlegen – nämlich mit dem Gehirn. Das hat einige Millionen Jahre Vorsprung und Tricks auf Lager, die kein Computer in endlicher Zeit lösen kann. Es gibt Probleme, die heutige Rechner, selbst wenn sie unendlich mal schneller werden würden, nicht enträtseln können.
#explore: Haben Sie ein Beispiel?
Henning Beck: Computer können lernen, aber sie können nicht verstehen. Deep Learning ist toll – aber ‚deep understanding’ ist besser. Kein Computer versteht, dass ein Stuhl mehr ist als eine Sitzfläche mit vier Beinen und Lehne, Katzen Lebewesen sind und die Zeit nicht rückwärtslaufen kann. Computer können Verbindungen und Korrelationen herstellen, aber das ist zu wenig, um die Welt zu begreifen. Computer sind noch genauso dumm wie vor hundert Jahren, heute rechnen sie nur schneller.
#explore: Zurück zur Kreativität: Können Computer kreativ sein?
Henning Beck: Kreativität ist schon von der Definition her ausgeschlossen. Kreativität bedeutet, die Regeln zu brechen. Das können Computer gerade nicht. Computer können intelligent sein, aber Vögel sind auch intelligent. Intelligent sein heißt, seine Ressourcen effizient einzusetzen. Wir sollten deshalb nicht versuchen, gegen den Computer zu konkurrieren, wenn es darum geht, effizienter zu denken.
#explore: Warum nicht?
Henning Beck: Das kann der Computer einfach besser. Er schlägt uns im Schach, aber das ist wenig überraschend, weil es nur darum geht, schnell und fehlerfrei zu rechnen. Doch nur wir sind in der Lage, ein neues Schach zu erfinden. Solange ein Computer nicht selbstständig anfängt, World of Warcraft zu spielen, weil ihm das mehr Spaß bereitet als Schach, mache ich mir überhaupt keine Gedanken. Computer befolgen Regeln korrekt, sind dabei eben auch langweilig und unkreativ. Diesen Preis werden sie immer zahlen müssen.
„Noch nie waren wir so schnell darin, Entscheidungen zu treffen und uns auf neue Situationen anzupassen, wie heute.“
#explore: Wird das Gehirn langsamer und bequemer, wenn die moderne Technik Aufgaben für uns übernimmt?
Henning Beck: Das ist eine Illusion. Noch nie waren wir so schnell darin, Entscheidungen zu treffen und uns auf neue Situationen anzupassen, wie heute. Die Technik nimmt uns nur das ab, was wir schlecht können: Telefonnummern merken, Fahrpläne nachschlagen. Das schafft den Trugschluss, dass wir von den neuen Technologien getrieben werden und immer mehr in immer kürzerer Zeit erledigen müssen. In Wirklichkeit gewinnen wir dank der digitalen Assistenten mehr Zeit, weil wir uns nicht mit unseren Schwächen aufhalten müssen. Unsere Stärken – Ideen zu entwickeln und mit Menschen umzugehen – kann uns kein Computer abnehmen.
#explore: Hirnjogging zielt genau auf diese Schwächen und soll unsere grauen Zellen trainieren. Ist das überhaupt sinnvoll?
Henning Beck: Seit Menschen denken können, möchten sie auch ihr Denken verbessern. Ich sag immer, wenn jemand Hirnjogging will, dann soll er mit seinem Gehirn joggen gehen und Sport machen. Allein die bessere Durchblutung und der gesteigerte Stoffwechsel führen schon dazu, dass unser Gehirn besser funktioniert. Mit Menschen zu interagieren, mit ihnen zu sprechen, ist allerdings das Beste, was ich meinem Gehirn antun kann.
#explore: Also sind die ganzen Apps, Rätselhefte und Ratgeberbücher überflüssig?
Henning Beck: Viele Menschen wollen ihr Hirn mit mehr Training gezielt fördern. Sie laden sich ein Programm herunter und trainieren ihr Brain, wie Sportarten trainiert werden. So statisch funktioniert ein Gehirn eigentlich gar nicht. Es ist viel anpassungsfähiger, lebendiger und interaktiver. Das kann man fördern, indem man etwas unternimmt, sich mit Freunden trifft und auf Leute zugeht. Die vielen Hirnjogging-Programme kann man sich eigentlich sparen.
#explore: Hand auf’s Herz: Haben Sie Apps für mentale Fitness auf dem Handy?
Henning Beck: Nein! Ich habe ein Schachprogramm runtergeladen, aber das zählt nicht. Da merke ich nur, wie unterlegen ich einem simplen Smartphone-Algorithmus bin.
#explore: Verändern die neuen Technologien das Lernen?
Henning Beck: Auf jeden Fall lässt sich das Gehirn darauf einstellen. Es ist das einzige System, dass sich immer bestmöglich auf neue Situationen anpasst, egal ob man im Busch auf die Welt kommt oder in New York City, vor 100.000 Jahren oder in 100.000 Jahren. Derzeit ist es ein großer Trend, Medien noch stärker einzusetzen. Ich lerne nicht mehr nur mit einem Buch, sondern versuche den Lernstoff mit verschiedenen Techniken dem Gehirn näher zu bringen. Das ist für das Gehirn sehr gut, weil es das Verständnislernen fördert. Denn das ist die große Kunst – nicht nur die Vokabeln auswendig zu wissen, sondern sie auch im Gespräch anwenden zu können. Die neuen Medien helfen dem Gehirn dabei, ich bin da sehr optimistisch.
„Wir wissen, dass das Gehirn seine Fähigkeit verliert, Aufgaben zu priorisieren, wenn es in seinem Arbeitsrhythmus zu oft unterbrochen wird.“
#explore: Welche Schattenseiten sehen Sie dabei?
Henning Beck: Wir wissen, dass das Gehirn seine Fähigkeit verliert, Aufgaben zu priorisieren, wenn es in seinem Arbeitsrhythmus zu oft unterbrochen wird. Ein konkretes Beispiel: Wenn ich häufig von meinem Handy gestört werde, weil es alle zehn Minuten bimmelt, dann wird es für mein Gehirn knifflig: Was ist jetzt wichtig – die Arbeit, das Handy? Es verlernt, sich für eine gewisse Zeit auf eine Sache zu konzentrieren und effektiv zu arbeiten. Je mehr wir hin und her springen, desto mehr Fehler machen wir.
#explore: Das schließt doch Multitasking aus?
Henning Beck: Ja, das ist korrekt. Nur zwei einfache kognitive Aufgaben sind parallel möglich. Das war’s dann auch. Wenn bei Olympia fünf Livestreams laufen, kann ich die nicht gleichzeitig anschauen und muss von einem zum anderen springen. Genau dann, wenn ich wechsele, sehe ich gar nichts und Fehler passieren.
#explore: Was raten Sie, um Fehler zu vermeiden?
Henning Beck: Ich empfehle eine Mediendiät – sich für zwei Stunden auf ein konkretes Thema festzulegen, sich darauf zu konzentrieren und daran weiterzuarbeiten, ohne Ablenkung durch Smartphone oder Tablet. Das Gehirn findet dann wieder recht schnell zu seinem Rhythmus zurück. Man sollte nie unterschätzen, wie anpassungsfähig das Gehirn ist.
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ZUR PERSON
© Marc Fippel
Hirnforschung ist kompliziert und komplex. Doch dass Neurobiologie auch kurzweilig sein kann, zeigt Henning Beck in seinen Vorträgen und verbindet Wissenschaft mit Unterhaltung.
Science Slam
Einen seiner größten Erfolge feierte er 2012, als Henning Beck zum Deutschen Meister der Science Slammer gekürt worden ist. Beim Science Slam treten Wissenschaftler auf der Bühne gegeneinander an und haben zehn Minuten Zeit, dass Publikum zu begeistern – die Zuschauer entscheiden, wer den besten Vortrag gehalten hat.
Publikationen
Henning Beck veröffentlicht regelmäßig Sachbücher, zuletzt erschien von ihm im Springer Spektrum Verlag „Faszinierendes Gehirn – Eine bebilderte Reise in die Welt der Nervenzellen“.
Digitales Lernen
Weiter Denken – Wissen entwickeln: Unter diesem Motto bietet die TÜV NORD Akademie mit Seminaren, Tagungen und Kongressen maßgeschneiderte berufliche Weiterbildung.
Bei einigen Kursen können die Teilnehmer über ein Onlineportal die Inhalte mithilfe von Lernvideos, Übungen und Quizfragen verinnerlichen. Dieses Angebot wird aktuell weiter ausgebaut.
TÜV NORD Online Akademie
In Kürze geht außerdem die TÜV NORD Online Akademie mit mehr als 6000 aufgezeichneten Vorträgen aus einer Reihe von TÜV NORD-Trainings an den Start. Die Teilnehmer absolvieren dort von ihrem persönlichen „virtuellen Schreibtisch“ aus zertifizierte Lernprogramme in unterschiedlichen digitalen Lernformaten. So entfallen Reisezeiten, während sich Teilnehmer nur die Themen aussuchen, die sie interessieren oder benötigen und sich trotzdem aktiv mit Referenten und Lerngruppen austauschen können.