26. August 2021
Migration, Klimawandel, Verkehrswende: Gesellschaftliche Debatten werden immer erbitterter geführt. Menschen mit unterschiedlichen Positionen stehen sich zunehmend unversöhnlich gegenüber – eine Entwicklung, die sich in der Coronakrise weiter verschärft hat. Dario Nassal und Felix Friedrich wollen die verhärteten Fronten aufweichen. Ihre News-App „Buzzard“ will in aktuellen Debatten alle Seiten des politischen Spektrums abbilden und den Leserinnen und Lesern so einen Perspektivwechsel ermöglichen.
Name: Dario Nassal
Alter: 29
Beruf: Gründer und Geschäftsführer von Buzzard
Website: www.buzzard.org
Was ist Buzzard?
Buzzard ist eine News-App, die es Nachrichtenleserinnen und -lesern leicht macht, aus der eigenen Filterblase auszubrechen und sich in kurzer Zeit eine vielfältige, differenzierte Meinung zu politischen Themen zu bilden. Bei Buzzard finden sie Meinungen aus Zeitungen, Zeitschriften und Blogs aus dem ganzen politischen Meinungsspektrum, von links bis rechts, im Überblick. Zu zwei tagesaktuellen Topthemen und einer Debatte kuratiert das Buzzard-Team von Montag bis Freitag Meinungsartikel aus einem Pool von 1.800 deutsch- und englischsprachigen Quellen, fasst diese zusammen und ordnet sie journalistisch ein. Die Buzzard-News-App ist werbefrei und unabhängig. Sie finanziert sich über mehr als 3.000 zahlende Unterstützerinnen und Unterstützer sowie Stiftungen und Unternehmen, die vergünstigte Abos und Workshops für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Azubis buchen können.
Wie ist die Idee entstanden?
Felix Friedrich und ich hatten die Idee im Politikstudium in Mannheim. Als angehende Journalisten und Politiknerds fiel uns auf, wie polarisiert aktuelle Debatten zu Themen wie Klima, Schuldenkrise und Migration geführt werden. Und wie schwierig es selbst für hochinteressierte Nachrichtenleserinnen und -leser ist, täglich einen Überblick über die ganze Bandbreite politischer Perspektiven zu bekommen und sich so eine differenzierte Meinung zu bilden – frei von den Filterblasen und Fake News auf Social Media. Eine solche Plattform gab es nicht, deshalb haben wir beschlossen, sie aufzubauen.
„Der gesellschaftliche Diskurs zwischen Andersdenkenden findet nicht mehr statt. Dabei müssen wir miteinander sprechen, um gemeinsame Lösungen für die Zukunft zu finden.“
Die Welt braucht Buzzard, weil …
… der Diskurs in unserer Gesellschaft immer radikaler wird. Immer mehr Menschen leben in ihren Blasen. Das zeigt sich zunehmend nicht nur online, sondern auch im echten Leben. Während Corona ist das besonders deutlich geworden: Familien trennen sich, weil die einen auf Querdenker-Demos gehen und die anderen die Maßnahmen befürworten und sich Sorgen machen. Politikerinnen und Politiker, die die Corona-Maßnahmen durchsetzen, erhalten Morddrohungen, ebenso wie zum Beispiel Aktivistinnen und Aktivisten von #allesdichtmachen, die die Maßnahmen kritisieren. Die Lager bei vielen großen Debatten stehen sich verfeindet gegenüber. Der gesellschaftliche Diskurs zwischen Andersdenkenden findet nicht mehr statt. Dabei müssen wir miteinander sprechen, um gemeinsame Lösungen für die Zukunft zu finden. Das war nie wichtiger als jetzt, da wir in Anbetracht des Klimawandels vor einer gewaltigen Zeitenwende stehen. Wir müssen als Gesamtgesellschaft wieder über Lösungen sprechen und Argumente austauschen, nicht Hassreden – auch wenn wir die Meinung der anderen nicht teilen. Wir arbeiten mit einem neuen Medienformat daran, dass Menschen wieder mehr Verständnis entwickeln für die Motive von Andersdenkenden. Damit der Diskurs wieder konstruktiver wird und wir Lösungen finden für die großen Herausforderungen unserer Zeit.
Läuft man mit einem kostenpflichtigen Angebot nicht Gefahr, nur die Menschen abzuholen, die ohnehin offen für andere Positionen und Meinungen sind?
Wir erreichen mit Buzzard Menschen von unterschiedlichen Seiten des politischen Spektrums. Auch solche, die etablierte Medien, von denen sie das Gefühl haben, hier wird ihnen eine Meinung vorgegeben, nicht mehr nutzen. Das ist wichtig, denn so holt Buzzard durchaus Menschen mit sehr unterschiedlichen politischen Ansichten auf eine Plattform zurück. Dort können sie sich dann auf Basis von Argumenten und geprüften Fakten informieren und nicht in Filterblasen weiter gegen andere Meinungen abschirmen und sich im schlimmsten Fall radikalisieren. Allerdings erreichen wir gerade jetzt in der frühen Phase oft die Early Adopters, die ohnehin schon gerne und viele journalistische Medien nutzen, das stimmt. Deshalb haben wir unser Angebot ausgeweitet: In Kooperation mit Stiftungen und Unternehmenspartnern bieten wir Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern in aktuell elf Bundesländern die App kostenlos an und geben Workshops an Pilotschulen, bei denen wir den Einsatz der App im Unterricht evaluieren und Feedback von Jugendlichen sammeln. An Schulen zu gehen ist aus unserer Sicht essenziell, denn so erreicht man als Journalist und Journalistin auch junge Menschen, die zu Hause kein „Spiegel“- oder „Zeit“-Abo herumliegen haben, die nicht in einer Großstadt mit Akademiker-Eltern aufgewachsen sind. Wenn wir diese jungen Menschen dafür begeistern können, sich vielfältig politisch zu informieren, Argumente abzuwägen, Fakten mit den Berichten aus anderen Medien zu vergleichen und nicht einfach ungeprüft zu teilen, dann können wir wirklich etwas verändern. Denn von der jungen Generation hängt ab, wie es mit unserer Demokratie in Zukunft weitergeht.
Wie wählen Sie Ihre Themen aus, und wie stellen Sie sicher, dass auch tatsächlich alle Perspektiven vertreten sind?
Aus unserem Fundus an 1.800 Quellen, den wir täglich durchsuchen, destillieren wir Tages- und Debattenthemen, die in deutsch- und englischsprachigen Medien Topthemen sind – das heißt in mindestens fünf überregionalen Medien diskutiert werden. Unser Fokus liegt auf politischen und gesellschaftspolitischen Themen in Deutschland; wir behandeln allerdings auch internationale politische Konflikte und Debatten. Hintergrund für den Fokus auf Topthemen ist, dass wir uns in erster Linie als Medienspiegel verstehen, der Vielfalt und Überblick zu Themen liefert, die bereits breit in Medien und Gesellschaft diskutiert werden. Wir sammeln dann Meinungsbeiträge, Essays, Leitartikel, Interviews und Reportagen, die in Zeitungen, Zeitschriften und Blogs zu diesen Themen veröffentlicht werden, und gruppieren diese anhand der unterschiedlichen Argumente. Aus diesen Standpunkten pro Thema wählen wir dann sechs bis acht Perspektiven aus, die in der Fülle das veröffentlichte Meinungsspektrum pro Thema so breit wie möglich repräsentieren. Wichtig dabei ist die Unterschiedlichkeit der Perspektiven pro Thema, die Expertise der Autorinnen und Autoren, dass die Argumente gut begründet werden und dass keine Hetze oder (rechts-)extreme Propaganda verbreitet wird. Alle Kriterien für die Auswahl zeigen wir im Detail auf unserer Methodik-Seite.
In der öffentlichen Testphase 2019 gab es Kritik daran, dass auch Beiträge von rechtsradikalen und verschwörungsideologischen Blogs in Buzzard-Debatten präsentiert wurden. Nach welchen Kriterien wählen Sie heute Meinungsbeiträge und Medien aus?
Extremismus und Verschwörungsideologien haben auf Buzzard keinen Platz. Die Kritik, die sich auf die Pilotphase und die ersten Buzzard-Prototypen von 2017 bezog, hat uns geholfen, ganz klar zu definieren, wann wir bei Medien die rote Flagge hissen. Gemeinsam mit dem journalistischen Beirat und unserer Community haben wir uns auf folgende Kriterien geeinigt: Wir berücksichtigen Medien grundsätzlich nicht, wenn sie als verfassungsfeindlich eingestuft sind, zu Gewalt gegen Menschen aufrufen, den Holocaust oder andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit verharmlosen, extremistische Organisationen und Gruppen offen unterstützen oder eng mit diesen vernetzt sind oder kein Impressum haben, sodass unklar ist, wer dahintersteckt. Zudem werden alle Beiträge auf Buzzard sorgfältig geprüft und journalistisch eingeordnet. In den Anmerkungen der Redaktion zu jedem Beitrag zeigen wir die Hintergründe von Medien sowie Autorinnen und Autoren eines Beitrags auf.
Wie soll es mit Buzzard weitergehen?
Unsere Vision ist es, Europas größte Plattform für politische Perspektiven zu werden und ähnlich wie Apps in anderen Bereichen – beispielsweise Headspace für Meditation – eines Tages Millionen Menschen weltweit dabei zu helfen, sich eine differenzierte politische Meinung zu bilden, auch wenn wenig Zeit im Alltag ist. Im vergangenen Jahr sind wir von 1.500 Unterstützerinnen und Unterstützern auf über 3.000 Mitglieder gewachsen. Aktuell starten wir Medienkompetenz-Pilotprojekte in elf Bundesländern und Regionen in Deutschland – gemeinsam mit Partnern wie der Medienstiftung der Sparkasse Leipzig, der taz Panter Stiftung und dem Europäischen Institut für Journalismus- und Kommunikationsforschung. Der nächste Schritt wird sein, Buzzard als Podcast oder Audioformat zu starten und die Schulprojekte auf ganz Deutschland auszuweiten. Danach möchten wir die Community auch in anderen Ländern aufbauen, in denen es noch viel schwieriger ist, sich eine ausgewogene politische Meinung zu bilden.
Auf welches digitale Produkt könnten Sie verzichten?
Smartwatches, die uns noch häufiger mit Notifications, E-Mails und Updates aus den sozialen Medien verschmelzen lassen, sind in einer Welt der fortwährenden Informationsüberflutung nicht gerade förderlich für die persönliche Ausgeglichenheit.
Hätten Sie gerne einen Haushaltsroboter?
Ja, solange er nicht Gläser zerbricht und Socken verschwinden lässt.
Welche technische Anwendung wird Ihnen immer ein Rätsel bleiben?
Musik mit Autotune-Gesang. Ich finde, die Fähigkeit des Menschen, zu singen, und die Tatsache, dass keine zwei menschlichen Stimmen je gleich klingen, dass jede Stimme den Charakter des Körpers und des Menschen, der sie erhält, in sich trägt, sind einige der wunderschönen Rätsel der Natur. Wollen wir wirklich daran digital herumpfuschen – ganz abgesehen davon, dass es einfach öde und geschmacklos klingt?
Wann waren Sie das letzte Mal 24 Stunden offline?
Vergangenen Sonntag bei einem Kurztrip an einen Brandenburger See.
Urlaub ohne WLAN: Traum oder Albtraum?
Traum. Im Urlaub finde ich es zur Erholung sehr wichtig und auch empfehlenswert, immer mal wieder für kurze Zeit Digital Detox zu betreiben.
Im #explore-Format „Steckbrief“ kommen regelmäßig spannende und inspirierende Menschen aus der digitalen Szene zu Wort: Forscher*innen, Blogger*innen, Start-up-Gründer*innen, Unternehmer*innen, Hacker*innen, Visionäre und Visionärinnen.
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