4. Oktober 2017
Im hektischen Hauptstadtverkehr entsteht eine Teststrecke für autonomes Fahren und intelligente Verkehrsführung. Hier macht die Zukunft der Mobilität den Wirklichkeits-Check. Die Sicherheitsstandards begleitet und überprüft TÜV NORD.
Nirgendwo ist Berlin so sehr Hauptstadt wie auf dieser Strecke. Von der Friedrichstraße aus dem ehemaligen Ostteil der Stadt kommend, am Berliner Wahrzeichen vorbei, dem Brandenburger Tor, gelangt der Autofahrer auf die Straße des 17. Juni, die an den Volksaufstand von 1953 erinnert. Der Weg führt weiter durch den grünen Tiergarten bis zum stark befahrenen Kreisverkehr des Großen Sterns mit seiner Siegessäule, auf dem der Friedensengel prangt. Weiter geht die Fahrt, immer noch sechsspurig, an der Technischen Universität vorbei zum ebenfalls großen und sehr verkehrsreichen Kreis auf dem Ernst-Reuter-Platz, auf dem schon so mancher Autofahrer mehrere Runden brauchte, bis er aus dem Verkehrsknäuel wieder herausfand. Bei dem nervigen Durcheinander mag so mancher davon träumen, dass sein Wagen von selbst fährt. Das ist bald keine Zukunftsmusik mehr. Denn die historisch aufgeladene Straße des 17. Juni vom Brandenburger Tor bis zum Ernst-Reuter-Platz wird demnächst zum Hightech-Mekka für Verkehrstechnologien.
© TU-Berlin/PressestelleDer Sicherheitsfahrer überwacht die Testfahrt. Das Projekt Stadtpilot hat sich zum Ziel gesetzt, den Braunschweiger Stadtring autonom im regulären Verkehr zu befahren. TÜV NORD hat die Einführung von Stadtpilot begleitet.© TÜV NORD GROUPDie Erfahrungen mit der TÜV NORD e-STATION in Hannover fließen in das Projekt DIGINET-PS mit ein.
Ein Pionierprojekt im Aufbau
Auf Autobahnen wird das Auto ohne Fahrer schon eingesetzt und getestet. Allerdings ist das automatisierte Fahren auf den Fernstraßen verhältnismäßig einfach. Die eigentliche Herausforderung ist der Stadtverkehr mit seinen oft unvorhersehbaren Bedingungen. Darum wird es die knapp vier Kilometer lange Strecke in Berlin-Charlottenburg demnächst in sich haben. Im wörtlichen Sinn: „Zum einen wollen wir kleine Computer am Straßenrand einbauen, mit denen Autos kommunizieren können. Verkehrsampeln statten wir mit zusätzlichen Sensoren aus, damit der Computer im Auto selbst die Information mitbekommt, wann die nächste Grünphase beginnt. Damit wird ein deutlich besserer Verkehrsfluss erreicht“, erklärt Prof. Dr. Sahin Albayrak das Projekt im Interview mit dem Technologie-Kultmagazin Wired. Er ist Professor an der Technischen Universität Berlin und leitet dort den Lehrstuhl für „Agententechnologie in betrieblichen Anwendungen“. Zum anderen werden alle Parkplätze mit entsprechender Technologie ausgestattet, damit die Verkehrsteilnehmer automatisch freie Parkplätze erkennen und ansteuern können. Zusätzlich wird es viele Sensoren längs der Strecke geben, die Umweltdaten erheben, Laternen werden mit einer LED-Infrastruktur ausgestattet und mit zusätzlicher Sensorik für eine klug gesteuerte Beleuchtung sorgen. Ein Pionierprojekt für intelligente Verkehrsvernetzung und autonomes Fahren im innerstädtischen Verkehr – bisher einmalig in Deutschland.
„Wir werden Prüfrichtlinien zur Validierung von automatisierten Fahrfunktionen für den urbanen Raum konzipieren und im realen Straßenverkehr erproben“
Vertrauen in die Technik schaffen
Bei diesem Konzept „fällt der Mensch als überwachendes System für eine bestimmte Zeit aus,” betont Heiko Ehrich von TÜV NORD, „das ist die besondere Herausforderung.” Denn keiner weiß genau, ob all die Kameras, Maschinen und Software die Realität immer richtig wahrnehmen und interpretieren. Bisher gibt es für solche Projekte keine Standards und Regularien zur Sicherheit. „Die Frage ist: Wie prüft man in Zukunft autonome und vernetzte Fahrfunktionen”, sagt Ehrich, der federführend für TÜV NORD bei DIGINET-PS am Tisch sitzt. Der Leiter des Fachgebiets Electronic Systems & Car IT in Essen bearbeitet hier Neuland. Er und sein Team müssen ein Prüfkonzept für Funktionen und Systeme erarbeiten, die von den anderen Partnern entwickelt werden. „Echte Forschungsarbeit”, so Ehrich. Die Experten von TÜV NORD müssen dabei die Betriebs- und Informationssicherheit ins Auge fassen. „Wir werden Prüfrichtlinien zur Validierung von automatisierten Fahrfunktionen für den urbanen Raum konzipieren und im realen Straßenverkehr erproben“, erläutert Ehrich. Die gewonnenen Erkenntnisse dienen als Handlungsanweisungen für künftige Projekte und als nationale Referenz für Genehmigungsverfahren.
Professor Albayrak, Spezialist für IT und Robotik, ist der Kopf des Projekts „Digital vernetzte Protokollstrecke”, kurz: DIGINET-PS. Neben der TU Berlin arbeiten an dem Projekt noch andere namhafte Technologie-Unternehmen mit wie das Daimler Center for Automotive Information Technology Innovations (DCAITI), das Fraunhofer-Institut für Offene Kommunikationssysteme (FOKUS), die Berliner Agentur für Elektromobilität (eMO) und T-Systems International. Als Umsetzungspartner für das Prüfkonzept ist TÜV NORD in das Forschungsvorhaben eingebunden.
© Kai Royer/Fraunhofer FOCUSTÜV NORD unterstützt Berliner Teststrecke für autonomes Fahren.
Das Besondere an DIGINET-PS ist nicht nur, dass sich das Projekt dem hochkomplexen, städtischen Verkehr stellt, sondern auch die Ausrichtung als offene Plattform, an der viele Hersteller innovative Lösungen realitätsnah erproben können. Dabei kommen unterschiedliche Techniken und Standards zum Einsatz, die miteinander vernetzt werden und kommunizieren sollen. „Viele Firmen werden davon profitieren. Zum einen mittelständische Unternehmen, die ihre innovativen Lösungen hier in Berlin testen können, Automobilhersteller, die neue Technologien ausprobieren, oder Unternehmen wie die Telekom, die neue Dienstleistungen entwickeln wollen”, so TU-Professor Albayrak. Die Berliner Teststrecke dient dabei als Rahmen für diverse Anwendungen, Techniken und Standards rund um den autonomen Verkehr.
Zunächst wird der Autofahrer von Hochtechnologie an der Strecke nichts spüren. Details könnten aber schon bald sichtbar werden. Rund 15 Ampeln regeln in normalen Zeiten den Verkehr auf der Straße des 17. Juni. Aber die breite Chaussee wird auch gern als Paradestraße genutzt. Präsidenten naher und ferner Länder fahren hier mit ihrem Tross entlang. Der übliche Verkehr ruht und die Ampeln stehen natürlich still – oder sie leuchten und blinken demnächst nicht mehr rot, gelb, grün, sondern in den Landesfarben des jeweiligen Staatsgastes. Für den französischen Präsidenten Emmanuel Macron stände dann die Ampel „auf Trikolore” – für DIGINET-PS vermutlich eine der leichtesten Übungen.
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Die Projektteilnahme von TÜV NORD steht in direktem Zusammenhang mit dem Innovationszentrum Connected Living, dem TÜV NORD seit Frühjahr 2017 angehört. Insbesondere durch das persönliche Engagement von Dr. Dirk Stenkamp, Vorstandsvorsitzender der TÜV NORD GROUP, bei Connected Living konnte sich TÜV NORD bereits vielfach in das digitale Expertennetzwerk einbringen, u. a. durch Keynote-Beiträge auf den jährlichen Konferenzen der Vereinigung in Berlin.