27. September 2018
Beim Stichwort „digitaler Zwilling“ denkt man vielleicht an einen Avatar im Computerspiel, die eigene Online-Existenz oder einen KI-Doppelgänger aus einem Sci-Fi-Film. Was es mit dem digitalen Zwilling tatsächlich auf sich hat und wie er dafür sorgen kann, dass reale Windräder oder Aufzüge länger laufen, erklärt Carsten Becker von TÜV NORD im Kurzinterview.
#explore: Was ist der digitale Zwilling?
Carsten Becker: Der digitale Zwilling ist das digitale Abbild einer realen Sache. Das kann praktisch alles sein: von einer Turbine über eine komplette Industrieanlage bis hin zu einem Bergwerk. Über Sensortechnik wird das digitale Abbild ständig mit Daten aus dem realen Zwilling versorgt. Dadurch muss man nicht vor Ort sein, um sich ein Bild zu verschaffen, ob etwa die Turbine noch bestimmungsgemäß läuft. Bei Aufzügen wird beispielsweise bislang einmal im Jahr die Bündigkeit überprüft – also ob der Aufzug auf einem Niveau mit der Etage stoppt. Das ist wichtig, damit man auch mit einem Rollator im Altersheim beim Betreten oder Verlassen nicht stolpert. Ein digitaler Zwilling kann mir in jeder Sekunde melden, ob der Aufzug bündig ist. Das ist natürlich ein großer Mehrwert. Darüber hinaus kann ich über den digitalen Zwilling nicht nur den technischen Zustand einer Anlage überwachen, sondern auch prognostizieren, wann gewisse Komponenten ausfallen werden. Predictive Maintenance ist hier das Stichwort. Am konkreten Beispiel eines Aufzugs würde das bedeuten, wenn z.B. die Fahrstuhltür zunehmend langsamer schließt, kann anhand der Daten und statischer Methoden vorhergesagt werden, dass diese in einer bestimmten Zeit ausfallen wird. Benötige ich aber mehr Zeit als die vorhergesagte, um etwa die erforderlichen Ersatzteile zu beschaffen, kann ich über den digitalen Zwilling auch simulieren lassen, wie der Aufzug gefahren werden muss, damit die Tür länger hält.
#explore: In welchen Bereichen kann ein solcher digitaler Zwilling sinnvoll eingesetzt werden?
Carsten Becker: Überall dort, wo ich einerseits mit Sensoren genügend technische Informationen sammeln kann und sich anderseits der Einsatz dieser Messtechnik auch wirtschaftlich lohnt – denn sie ist natürlich nicht ganz billig. Grundsätzlich also in allen Bereichen, wo es hohe Investitionen gibt und damit verbunden hohe Kosten bei einem Ausfall: Vorreiter sind nicht umsonst Unternehmen wie Siemens oder GE. Windräder, Aufzüge, Turbinen, Pumpen, aber auch viele Industrie- und Energieversorgungsanlagen wie Kraftwerke sind dafür prädestiniert. Je preiswerter die Messtechnik wird, umso weiter wird sich das Einsatzfeld ausdehnen. Für alle kritischen Infrastrukturen macht es schon heute Sinn.
„Es gibt Abwehrmechanismen, um zu gewährleisten, dass Sensordaten nicht gehackt bzw. manipuliert werden können“
#explore: Inwiefern ist ein digitaler Zwilling auch eine Herausforderung für die Cybersecurity?
Carsten Becker: Das ist auf jeden Fall ein konkretes Risiko, auf das man reagieren muss. Es muss sichergestellt sein, dass die Daten des digitalen Zwillings korrekt sind, weil sich aus diesen wiederum konkrete Handlungsoptionen ableiten. Werden etwa zu niedrige Drehzahlen oder Durchsätze bei einer Turbine angezeigt, kann das dazu führen, dass der Betreiber sie aus der Ferne hochregelt und dadurch die Maschine überlastet und sogar beschädigt. Über den Computerwurm Stuxnet wurden auf diese Weise etwa Anzeigen in iranischen Atomanlagen aus der Ferne manipuliert. Dabei gibt es natürlich Abwehrmechanismen, um zu gewährleisten, dass Sensordaten nicht gehackt bzw. manipuliert werden können: Einerseits kann ich dafür sorgen, dass man sicherheitszertifizierte Sensoren verwendet. Andererseits kann über den Einbau sogenannter Secure-Elements, wie sie TÜViT zertifiziert, sichergestellt werden, dass die Daten nicht während der Übertragung über eine „Man-in-the-Middle-Attack“ gehackt und geändert werden können.
#explore: Kann der digitale Zwilling den menschlichen Prüfer mittelfristig ersetzen?
Carsten Becker: Ein digitaler Zwilling, so wie wir ihn heute kennen, ist nicht notwendigerweise ein umfassendes Abbild der kompletten Turbine. Gemessen werden neuralgische Punkte, die für die Funktion entscheidend sind. Zugleich lässt sich mit der heutigen Sensortechnik noch nicht alles – zu angemessenen Kosten – messen, was wir bislang vor Ort überprüfen: Bei Aufzügen sind das aktuell 76 Punkte. Bis die alle digital abbildbar sind, vergehen höchstwahrscheinlich noch viele Jahre. Und es wird vermutlich immer Dinge geben, die sich nicht aus der Ferne prüfen lassen. Der Augenschein eines realen Prüfers bleibt also nach wie vor wichtig und wird es auch noch viele Jahre bleiben. Aspekte wie etwa die Bündigkeit des Aufzugs lassen sich allerdings schon heute deutlich umfassender über einen digitalen Zwilling kontrollieren.
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ZUR PERSON
© TÜV NORD
Carsten Becker, Leiter des Corporate Center Innovation im TÜV NORD-Geschäftsbereich Industrie Service. Mit seinem Team beschäftigt sich der diplomierte Wirtschaftsingenieur und Industrial Engineer mit IT-Security, Sensorik, dem Internet der Dinge und der Fabrik 4.0.