20. Februar 2019
Die industrielle Revolution kochte auch nur mit Wasser – genauer gesagt mit Wasserdampf, der die Kolben der Maschinen, Pumpen und Lokomotiven antrieb. Doch die neuen technologischen Möglichkeiten bargen auch unbekannte Gefahren. Wie die Dampfkraft entdeckt wurde, welche Risiken sie mit sich brachte und wie die Dampfkesselüberwachungsvereine Menschen vor der Technik schützten, das erzählen wir in unserer kurzen Geschichte der Dampfmaschine.
Am Anfang war bekanntermaßen das Feuer. Mit ihm konnten unsere Urahnen wilde Tiere vertreiben, aus Ton Gefäße brennen, unverdauliche Wurzeln in nahrhafte Speisen und lebensfeindliche Orte in ein Zuhause verwandeln. Seitdem entwickelt die Menschheit ständig neue Ideen, um sich die Elemente nutzbar zu machen: Mit Windkraft mahlte man Korn zu Mehl und segelte über die Ozeane zu unbekannten Ufern. Wasserkraft ließ sich nutzen, um zu schleifen oder Holz zu zersägen. Doch Wind weht nicht überall, bei Flaute stehen Schiffe und Windräder still. Und die verlässlichere Wasserkraft lässt sich nicht immer dort erzeugen, wo man sie gebrauchen kann, um Wasserräder, Pumpen oder Sägen anzutreiben. Erst die Erfindung der Dampfmaschine versprach Antriebsenergie an jedem Ort der Erde – und eine Leistungsfähigkeit, mit der selbst Arbeitspferde nicht mithalten konnten. Als ihr Vater wird oft James Watt gefeiert. Doch der schottische Erfinder war beileibe nicht der Erste, der sich mit der Technik auseinandersetzte.
Heron von Alexandria und die Aeolipile
Dass Wasserdampf einen Topfdeckel klappern und abheben lässt, dieses Phänomen beschäftigt schon im Altertum einen Gelehrten – namentlich Heron von Alexandria im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung. In seinem Traktat „Pneumatika“ beschreibt der griechische Ingenieur und Mathematiker Apparate, mit denen sich Wärmeenergie in Bewegungsenergie umwandeln lässt: Der untere Teil seines Versuchsaufbaus besteht aus einem dichten Wasserkessel, der mit einer offenen Flamme beheizt wird. Darüber befindet sich eine drehbar gelagerte Hohlkugel, die über zwei Halterungen mit dem Kessel verbunden ist und über zwei diametral ausgerichtete Austrittsdüsen verfügt. Bringt man das Wasser im Kessel zum Kochen, strömt der Dampf durch eine der Halterungen in die Kugel und verlässt sie durch die beiden Düsen. Dabei entsteht ein Rückstoß, der die Kugel in Drehung versetzt. Herons sogenannte Aeolipile gilt als die erste bekannte und dokumentierte Wärmekraftmaschine der Geschichte. Und sie bleibt für viele Jahrhunderte die einzige ihrer Art: 1.500 Jahre soll es dauern, bis man die Kraft des Wasserdampfs wiederentdeckt.
© TÜV NORDEin Dampfkessel in Magdeburg, aus der Zeit um 1880.
Von Denis Papin bis James Watt
Im Jahr 1690 präsentiert der Franzose Denis Papin den ersten Prototyp einer Dampfmaschine, die mittels Kolben und Zylinder funktioniert. 1698 legt der britische Ingenieur Thomas Savery mit einer dampfbetriebenen Vorrichtung nach, die dabei helfen soll, das Grundwasser in Bergwerken abzupumpen. Der praktische Einsatz ist zwar noch nicht allzu rentabel, das Prinzip aber bereits ausgeklügelt. 1712 perfektioniert der Konstrukteur Thomas Newcomen das Verfahren und entwickelt die atmosphärische Dampfmaschine. Sie arbeitet sehr viel effizienter als die Maschine Saverys, verbraucht jedoch noch viel Energie, weil Kolben und Zylinder bei jedem Arbeitstakt erhitzt und wieder abgekühlt werden müssen. Ein Problem, das James Watt mit seiner 1769 patentierten doppelt wirkenden Dampfmaschine in Luft auflöst. „Doppelt wirkend“ ist sie, weil der Zylinder abwechselnd und beidseitig mit Dampf befüllt wird. Dadurch erreicht die Maschine einen Wirkungsgrad von fast drei Prozent. Das klingt erst einmal wenig, ist allerdings rund sechsmal mehr, als die Dampfmaschine von Thomas Newcomen zu leisten imstande ist. Und weil eine neue Technologie eine Maßeinheit braucht, unter der sich jeder etwas vorstellen kann, setzt James Watt die Leistung eines Pferdes in ein mathematisches Verhältnis zur geleisteten Arbeit und entwickelt so die Pferdestärke – kurz PS.
Technologie mit Sprengkraft
Die Entwicklung der Dampfmaschine bringt Forscher und Ingenieure auf immer neue Ideen zur Anwendung des revolutionären Apparates. Sie hält Einzug in Webereien und Spinnereien, setzt die Produktion von Kohle, Eisen und Stahl unter industriellen Volldampf und schafft schließlich zu Wasser und zu Lande neue Möglichkeiten, um Menschen oder Waren von A nach B zu befördern: 1807 läutet Robert Fulton auf dem Hudson River die Ära der Dampfschifffahrt ein, 1825 wird in England die erste öffentliche Eisenbahnlinie eröffnet. Auch in den deutschen Kleinstaaten nimmt die Industrialisierung rasant an Fahrt auf: Während im Jahr 1849 im Rheinland und in Westfalen gerade 651 Dampfmaschinen mit einer Leistung von insgesamt 18.775 PS betrieben werden, steigt die Zahl in den nächsten 25 Jahren bereits auf 11.706, deren Leistung bei 379.091 PS liegt. Doch die explosive Verbreitung der neuen Technologie birgt zugleich eine enorme Sprengkraft – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.
© TÜV NORDDie Explosion eines Dampfkessels hatte meist schwerwiegende Folgen. Hier in Chemnitz führte sie zur völligen Zerstörung des Kesselhauses.
Am 27. Januar 1855 kommt es in Hannover zur Katastrophe. In der Will’merschen Wagenfabrik explodiert ein Dampfkessel, sieben Arbeiter sind sofort tot, viele schwer verletzt. Verheerende Unfälle wie dieser sind keine Seltenheit. In den Jahren 1877 bis 1890 gibt es laut frühen Statistiken allein im deutschen Kaiserreich mehr als 200 Dampfkesselexplosionen mit fast 200 Toten und über 100 Schwerverletzten. Neben mangelhafter Wartung, Konstruktionsfehlern und zu hohem Dampfdruck zählt Überhitzung durch Wassermangel zu den häufigsten Ursachen für die schweren Unglücksfälle. Denn wird die Kesselwand zu heiß, können sich Risse bilden, das Wasser im Kessel verdampft schlagartig, und die plötzliche Druckentlastung führt zu gewaltigen Explosionen. Eine Gefahr, die durch die Festinstallation der Anlagen in den Fabriken zu besonders fatalen Unfällen führt. Um die Kraft der Maschinen auf möglichst viele Arbeitsplätze zu übertragen, benutzt man zu dieser Zeit nämlich Getriebe mit Treibriemen, die nicht zu lang werden dürfen. Dampf- und Wärmeverluste sollen durch kurze Dampfleitungen minimiert werden. Deshalb werden die Dampfkessel und Maschinen dicht an den Arbeitsplätzen installiert – mitten unter den arbeitenden Menschen.
Sicherheit durch Selbstverpflichtung
Alarmiert von der zunehmenden Zahl der Dampfkesselexplosionen wollen einige Staaten in Europa gegensteuern. Preußen ordnet ab 1856 behördliche Kontrollen an, was aber eher schlecht als recht funktioniert. Sind zunächst die örtlichen Polizeibehörden für die Dampfkesselüberwachung zuständig, wird diese Aufgabe später von beamteten Bauinspektoren oder Kreisbaumeistern übernommen. Doch wie den Polizisten fehlt auch ihnen meist die nötige Erfahrung und Fachkenntnis im Umgang mit den Anlagen.
Fachleute müssen also her, um die Sicherheit der Dampfkessel zu überprüfen – davon sind Hamburger Dampfkesselbetreiber und Reeder überzeugt. Am 15. Juni 1869 gründen sie deshalb den „Norddeutschen Verein zur Ueberwachung von Dampfkesseln in Hamburg“. Er ist der zweite Dampfkesselüberwachungsverein (DÜV) Deutschlands und wie der 1866 in Mannheim gegründete Verein nimmt er sich ein englisches Modell zum Vorbild, das einige dortige Unternehmen schon 1855 aus der Taufe gehoben hatten: die „Manchester Steam Users Association“, den ersten technischen Überwachungsverein der Welt. Der Hamburger Verein prüft als Selbstverwaltungsorgan der Wirtschaft die Dampfkessel der Mitglieder und schafft es die Zahl der Kesselunfälle auf ein zehnmal niedrigeres Niveau zu senken, als jenes, das Preußens staatliche Kontrolleure erreichen konnten.
© TÜV NORDKeine Prüfung ohne Messgeräte: Hier ein Utensil aus dem Fundus der Magdeburger TÜV NORD Niederlassung.
Auch die privatwirtschaftlichen Dampfkesselüberwacher in Deutschland erzielen schon in kurzer Zeit beachtliche Erfolge. Der Magdeburger DÜV-Ingenieur Rudolf Weinlig kann zwischen 1871 und 1873 in seinem Prüfbezirk die Zahl der äußeren Kesselschäden von 60 auf 20 Prozent und die bis dahin kaum beachteten Gefahren im Inneren der Kessel von 30 auf 16 Prozent reduzieren.
Audienz beim „Eisernen Kanzler“
Als technischer Leiter des größten DÜV Preußens erhält Weinlig 1884 einen persönlichen Termin beim preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck. Er überzeugt den „Eisernen Kanzler“, dass es eine gute Idee sei, wenn die DÜV Dampfkessel nicht nur prüfen, sondern auch genehmigen und nach ihrer Inbetriebnahme offiziell abnehmen. Außerdem erkennt der Staat die von den Vereinen geschaffenen „Grundsätze für die Prüfung der Materialien zum Bau von Dampfkesseln“ (Würzburger Normen) und die „Vorschläge für die Berechnung der Blechstärken neuer Dampfkessel“ (Hamburger Normen) faktisch als offizielle Regeln an.
Mit der Reichsgewerbeordnung vom 1. April 1900 erhalten die DÜV dann die gesetzliche Befugnis zur Dampfkesselüberwachung. Dadurch sind sie nicht nur für die Sicherheit ihrer Mitglieder zuständig, sondern prüfen auch die Kessel von Nichtmitgliedern. 28 Vereine mit 273 Ingenieuren überwachen im gesamten Deutschen Reich 89.000 Dampfkessel. Zusätzlich entwickeln sie Ideen und machen Vorschläge, um die wirtschaftliche Effizienz der Maschinen zu erhöhen. Der Magdeburger Verein für Dampfkesselbetrieb unterhält zu diesem Zweck seit 1881 eine eigene Versuchsanstalt, in der beispielsweise die Heizwerte verschiedener Kohlesorten bestimmt werden.
© TÜV NORDGebündeltes Wissen von 1911.
Deutschland sucht den Superheizer
Doch die besten technischen Sicherheitsmaßnahmen helfen wenig gegen den Risikofaktor Mensch. Tatsächlich sind viele Unfälle die Folge unsachgemäßer Bedienung. Und das ist kein Wunder: Viele Dampfkesselheizer sind unqualifizierte und schlecht bezahlte Arbeiter, die gar nicht wissen, wie die Kessel funktionieren, in die sie täglich Kohlen hineinschippen. Oft blockieren sie aus Unkenntnis sogar selbst Sicherheitsventile, verstopfen die Warnpfeifen oder füllen zu wenig oder zu selten Wasser auf.
Das Gegenmittel der DÜV heißt Weiterbildung. Bereits 1874 engagiert der Magdeburger DÜV einen Lehrheizer, der die Dampfkesselheizer theoretisch und praktisch schulen soll. Bei den Fabrikbetreibern stoßen diese Angebote jedoch anfänglich auf taube Ohren. Heizer in Ausbildung fehlen in der Fabrik, kosten zusätzlich Geld und bringen wenig – so die zunächst etwas kurzsichtige Rechnung vieler Unternehmer.
© TÜV NORDKleiner Stempel, große Wirkung für den Magdeburger Verein für Dampfkesselbetrieb.
Erst ein Heizerwettbewerb bringt 1885 die Wende: Die in Lehrgängen geschulten Heizer kennen sich nicht nur besser mit den Sicherheitsanforderungen aus, sie benötigen zur Dampferzeugung auch nur halb so viel Kohle wie ihre ungeschulten Kollegen. Dieses Einsparpotenzial leuchtet vielen Fabrikbesitzern sofort ein. Heizerkurse werden daraufhin stark nachgefragt – nicht nur in Magdeburg, sondern auch in Hannover, wo der Lehrheizer des DÜV bis dahin ebenfalls nur ein Schattendasein geführt hat.
Eine Entwicklung, von der auch die Heizer selbst profitieren. Aus ungelernten und schlecht bezahlten Hilfskräften werden gefragte Facharbeiter, die deutlich höhere Löhne erzielen können. Die Dampfkesselsachverständigen der DÜV entwickeln sich ihrerseits zu Experten für die Sicherheit neuer und leistungsfähigerer Technologien – von der Elektrizität bis zum Verbrennungsmotor –, die das Dampfzeitalter bald beenden sollen. So nehmen sie bereits die Sicherheit der ersten Automobile unter die Lupe, die mit ein paar PS über die Straßen rollen. Ein naheliegendes Einsatzfeld: Schließlich werden die ersten Kraftwagen noch von Dampfmaschinen angetrieben. An diese oft vergessenen Anfänge erinnert heute noch der Beruf des „Chauffeurs“ – das französische Wort für „Heizer“.
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