26. Juli 2018
In Computerspielen, im Theater oder im Film sorgt der Einsatz von Virtual Reality (VR) bereits seit Längerem für ein neues Mittendrin-Gefühl. Doch auch in der Industrie, der Automobilbranche, der Architektur und bei Prüfprozessen rückt die Technologie zunehmend ins Zentrum. Hier sollen virtuelle oder erweiterte Realitäten (AR) durch neue Methoden bessere und effizientere Arbeitsweisen ermöglichen.
Unter den zahlreichen Zukunftstechnologien, die in der Kultserie „Star Trek“ durchgespielt werden, erfreut sich das Holodeck unter Sci-Fi-Fans besonders großer Beliebtheit. Die Crewmitglieder der Enterprise tauchen damit in ihrer Freizeit in computergenerierte Welten ein, durchstreifen den Wilden Westen oder verwandeln sich in Sherlock Holmes, oder sie simulieren medizinische Eingriffe und entwerfen technische Gerätschaften. Mittlerweile ist das Holodeck nicht mehr länger reine Zukunftsmusik – dank den Fortschritten der VR-Technologie, die nicht nur Computerspielern ein neues Mittendrin-Gefühl eröffnet. Audi erzeugt etwa mit einem „Virtual Reality Holodeck“ ein dreidimensionales Abbild eines Autos in einer virtuellen Umgebung, in der sich bis zu sechs Mitarbeiter bewegen können. So gewinnen Entwickler und Produktionsexperten frühzeitig einen realistischen Gesamteindruck eines Modells und seiner Proportionen. Das Unternehmen spart damit Zeit und Kosten in der Entwicklung, die bislang für fotorealistische 2-D-Computergrafiken oder handgefertigte Modelle aufgewendet wurden. In der nächsten Entwicklungsstufe sollen auch Mitarbeiter aus anderen Niederlassungen in die virtuelle Welt zugeschaltet werden, was die Arbeitsorganisation weiter erleichtert.
Neben der Entwicklung wird die Technologie auch in den dazugehörigen Autohäusern eingesetzt, sodass Kunden schon heute ihr Wunschauto in der virtuellen Welt konfigurieren können. Auch das Training von Mitarbeitern in der Verpackungslogistik stützt sich auf VR. Mit solchen Projekten steht Audi nicht alleine da: Laut einer Studie von Deloitte, Fraunhofer und Bitkom wollen deutsche Unternehmen bis 2020 rund 850 Millionen Euro in VR- und Mixed-Reality-Anwendungen investieren.
© TÜV NORD/Hauke HassSaima Ansari, Innovationsmanagerin bei TÜV NORD, zeigt den Einsatz der VR-Brille.
Die Deutsche Bahn hat beispielsweise Schulungsszenarien entwickelt, um Arbeitsunfälle beim Koppeln von Waggons zu vermeiden oder das Bahnpersonal für den Einsatz neuer Hublifte in ICEs zu trainieren, mit denen Rollstuhlfahrer sicher in den Zug gehoben werden können. Jeden der 5.000 Servicemitarbeiter am realen Zug auszubilden wäre für die Bahn mit hohen Kosten und einem enormen Zeitaufwand verbunden. Ein Zug, der zu Schulungszwecken steht, kann in dieser Zeit schließlich keine Fahrgäste befördern. Im Fahrbetrieb sind Trainings nur begrenzt möglich, weil Züge bestenfalls nach maximal fünf Minuten wieder aus dem Bahnhof rollen sollen. Die Übungen in der virtuellen Realität durchzuführen wird hier darum zur echten Alternative, die ganz konkret auf den Praxiseinsatz vorbereitet. Usman Ghias, der das Projekt bei der Bahn betreut, konnte nach dem VR-Training den Hublift eines echten Zuges fehlerfrei und innerhalb des dafür vorgesehenen Zeitlimits bedienen – ohne jemals zuvor einen realen Lift gesteuert zu haben.
Neben Produktentwicklung, Mitarbeiterschulung und Marketing könnte die virtuelle Realität aber auch Prüfprozesse oder Begutachtungsverfahren beschleunigen und verbessern. Für die Erstellung von Umweltgutachten machen sich die betreffenden Gutachter bislang direkt vor Ort ein Bild davon, wie sich Schall-, Licht- und Luftschadstoffe ausbreiten: Wo befinden sich die nächsten Wohnhäuser? Wie hoch sind sie, wo sind Balkone oder Terrassen? Sind Sportanlagen zu berücksichtigen? Welche unbebauten Flächen liegen in der Nähe? Dank der Daten aus Geoinformationssystemen und VR-Technologien kann nunmehr eine Stadt am Rechner geometrisch modelliert und virtuell erkundet werden. Für Stefan Goers von TÜV NORD liegen die Vorteile klar auf der Hand: „Natürlich haben wir bisher schon Aufnahmen in 2-D genutzt, aber die Daten in 3-D sind mit Virtual Reality besser aufbereitet. Mit der hohen Auflösung können wir ganze Straßenzüge und ihre Bebauung direkt heranzoomen.“ Auf diese Weise können die Gutachter im Vorfeld ermitteln, wo Menschen mit Schutzanspruch wohnen und wo sie beim Lokaltermin ihre Messgeräte aufstellen müssen. „Vor Ort kommen wir so deutlich schneller zu Ergebnissen“, ergänzt Stefan Goers.
Die innovative Herangehensweise wurde im Rahmen eines Pilotprojekts entwickelt. Fachleute arbeiteten hier mit den Innovationsmanagern von TÜV NORD zusammen. Geht es nach ihnen, sollen zukünftig auch Augmented-Reality-Anwendungen (AR) die Gutachter bei der Arbeit unterstützen. Diese erzeugen im Unterschied zur VR keine abgeschlossenen virtuellen Welten. Sieht man zum Beispiel durch das Display eines Smartphones, Tablets oder die Gläser einer Datenbrille auf die reale Umgebung, ergänzen sie das Blickfeld durch eingeblendete Informationen. In Prüfsituationen soll die erweiterte Realität die Inspektoren entsprechend in Echtzeit mit Zusatzinformationen versorgen, die sie für ihre Arbeit benötigen. Wie die Technik künftig bei der Inspektion und Instandhaltung von Kraftwerken helfen könnte, haben die AR-/VR-Experten von TÜV NORD auf der diesjährigen Hannover-Messe demonstriert. Visiert ein Prüfer im Kraftwerk über sein Tablet beispielsweise eine Rohrleitung an, werden über eine Augmented-Reality-App weitere Details eingeblendet: von technischen Zeichnungen über Informationen zu Schweißnähten bis zu Inspektionsberichten. Ebenso wird es möglich, den Systemstatus live zu überprüfen, zum Beispiel im Hinblick darauf, ob das System spannungsfrei ist.
Noch sind Virtual und Augmented Reality in der Entwicklungsphase, betont Saima Ansari, Innovationsmanagerin bei TÜV NORD: „Aber sie haben ein großes Potenzial für bestehende und neue Dienstleistungen. Wir arbeiten mit den Fachleuten des Konzerns an unterschiedlichen Einsatzszenarien.“ Das Ziel: durch virtuelle Welten oder die erweiterte Wirklichkeit Prüfungen schneller und effizienter zu machen.