04. Februar 2021
Das digitale Zeitalter hat für uns alle neue, ungeahnte Möglichkeiten eröffnet – und das gilt leider auch für Missbrauchstäter. Wie Eltern und Lehrer Kinder und Jugendliche in die digitalen Welten begleiten können und wie die Politik sie besser schützen kann, erklärt die Psychologin Julia von Weiler, Geschäftsführerin des Vereins „Innocence in Danger“.
#explore: Welche Ziele verfolgt „Innocence in Danger“?
Julia von Weiler: „Innocence in Danger“ bekämpft sexuelle Gewalt an Mädchen und Jungen und legt dabei einen besonderen Fokus auf die sexuelle Gewalt mittels digitaler Medien. Tatsächlich können wir heute überhaupt nicht mehr zwischen analogem und digitalem sexuellem Missbrauch trennen. Täter und Täterinnen nutzen schlicht immer alle ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Gerade die digitalen Kommunikationswege sind für sie ein Eldorado, weil sie dort ungestört und unbeobachtet Kontakt zu Kindern aufnehmen können.
In welchen digitalen Räumen sind Kinder und Jugendliche besonders gefährdet?
In allen digitalen Räumen, in denen Interaktion möglich ist – also in den meisten Online-Games und natürlich auf Social Media. Das Problem ist dabei, dass wir Kindern und Jugendlichen beim Umgang mit digitalen Medien oft eine Reflexionsfähigkeit zusprechen, die sie altersbedingt noch gar nicht besitzen können. Da verwechseln wir Anwendungskompetenz mit Lebenskompetenz: Nur weil Kinder schnell herausfinden, wo man welchen Knopf drücken muss und wie man gute Lichteffekte für ein TikTok-Video erzeugt, müssen sie deshalb noch nicht begreifen, welche Konsequenzen ein solches Video haben kann.
Auf welchen Wegen können wir die Heranwachsenden dafür sensibilisieren?
Da geht es zunächst natürlich um die Vermittlung der berühmt-berüchtigten Medienkompetenz. Wir sprechen tatsächlich lieber von digitaler Beziehungskompetenz: Die digitale Welt verändert unser aller Beziehungen – Kommunikation ist für sich genommen bereits eine Herausforderung. Digitale Kommunikation plus Beziehungsgestaltung sind noch einmal ungleich komplexer. Die entscheidende Frage ist dabei, wie und ab wann wir Kinder an digitale Medien heranführen. Kindern einfach ein Smartphone in die Hand zu drücken und sie in ein paar Medienkompetenz-Workshops zu schicken reicht auf jeden Fall nicht aus! Und es ist auch Unsinn, zu glauben, dass wir Kindern den Zugang zu digitaler Bildung verbauen, wenn sie nicht frühestmöglich ein eigenes Smartphone mit Internetzugang haben. Wir sollten uns vielmehr daran orientieren, wie wir sie fit für den Straßenverkehr machen: nämlich Schritt für Schritt und in enger Begleitung. Erst fahren sie auf dem Laufrad, später auf dem Fahrrad neben und vor uns her – und erst wenn wir wissen, dass sie die Verkehrsregeln und ihr Rad beherrschen, lassen wir sie auch mal alleine um den Block fahren. Eine solche graduelle Heranführung brauchen wir auch im Digitalen.
Und wie kann das konkret aussehen?
Eltern sollten sich genau überlegen, ab wann sie ihr Kind für reif genug halten, mit einem Smartphone umzugehen. Und sie müssen sich auch darüber klar werden, welcher Aufwand damit verbunden ist, ihre Kinder mit verantwortlicher elterlicher Kontrolle zu begleiten. Um Kinder und Jugendliche an das digitale Zeitalter heranzuführen, müssen wir also vor allem auch die Eltern und Erwachsenen um sie herum fit machen. Und wollen wir die digitale Beziehungskompetenz von Kindern stärken, geht es eben auch darum, gemeinsam mit ihnen zu überlegen, warum es in digitalen Räumen so besonders schwer zu erkennen ist, wenn sich ihnen jemand mit schlechten Absichten nähert. Oder warum es alle Jugendlichen für das Nonplusultra halten, auf TikTok zu sein. Müssen wir alle digitalen Trends mitmachen, oder darf man sich auch dagegen entscheiden?
Wie können Eltern das handhaben, ohne dass sich ihre Kinder dabei vor allem kontrolliert und überwacht fühlen?
Eltern sollen natürlich nicht die ganze Zeit an der Seite ihres Kindes kleben, sondern angepasst an deren Alter und Entwicklungsstand Entscheidungen mit ihnen, aber auch für sie treffen, so wie in allen anderen Lebensbereichen auch. Wir bei „Innocence in Danger“ sind etwa davon überzeugt, dass Grundschulkinder noch kein eigenes Smartphone brauchen. Und wenn sie dann ab und zu festgelegte Spiele oder Videos auf den Geräten ihrer Eltern aufrufen dürfen, ist es ja ganz selbstverständlich, dass diese ihnen diese Spiele oder Videos herunterladen, auch im Wohnzimmer dabei sind und ihnen gelegentlich über die Schulter schauen – schon aus Interesse, was ihre Kinder so treiben. Je älter die Kinder werden, desto autonomer wollen sie natürlich sein. So ist es ja auch im Straßenverkehr. Das gilt es dann, entsprechend auszuhandeln.
Wie können Eltern ihre Kinder auf den Fall der Fälle vorbereiten?
Wir müssen mit ihnen immer wieder besprechen: An wen wendest du dich, wenn du in Not gerätst, wenn dir etwas Angst macht? Falls es dir unangenehm ist, zunächst mit mir als Mutter oder Vater darüber zu sprechen, ist es vielleicht die Patentante, die Oma, ein Onkel oder eine Lehrerin? Täterinnen und Täter gehen perfide und strategisch vor und sind den Kindern immer voraus. Das gilt auch für den analogen Kontakt. Aber hier gibt es zumindest eine Menge körperlicher Signale – dass sich etwa die Stimme, der Atem, der Blick des Erwachsenen verändert –, die Kinder spüren lassen: Jetzt wird es irgendwie unangenehm. Online fallen diese Signale weitestgehend weg. Werden die Chatnachrichten dann aber doch explizit sexualisiert und die Neugier der Kinder weicht dem Entsetzen, fühlen sie sich oft schuldig dafür, sich auf den Kontakt eingelassen zu haben. Das macht es ihnen so besonders schwer, sich mitzuteilen. Auch deshalb müssen wir ihnen immer wieder vermitteln: Egal, was ist, ich hab dich lieb und bin an deiner Seite – auch wenn du glaubst, dass du Mist gebaut hast.
Welche Rolle können und sollten Schulen dabei spielen?
Eine unheimlich wichtige. Ebenso wichtig ist aber, dass wir das Thema ohne Alarmismus und Moralisierung behandeln. Denn das führt meistens vor allem dazu, dass Kinder beispielsweise in Projektwochen mit Informationen zugeschüttet werden, die sie total überfordern und mit denen sie auch nichts anfangen können. Ich war etwa einmal in einer sechsten Klasse eingeladen, und schon bei der Vorstellung sagte ein Junge entnervt: „Ja, ja, ich weiß schon, Sie erzählen uns jetzt, dass Facebook total gefährlich ist und da nur Mörder und Vergewaltiger unterwegs sind.“ Als sie dann gemerkt haben „Ach, die sind gar nicht so“, hatten wir zusammen eine Menge Spaß und haben einen tollen Workshop hingelegt. Es geht darum, den Kindern und Jugendlichen auf Augenhöhe zu begegnen. Das bedeutet, wir nehmen sie immer ernst und interessieren uns ehrlich dafür, was sie online erleben und was das in ihnen auslöst. Wenn die Kinder das merken, entstehen nach meiner Erfahrung die besten Gespräche. Genau dazu müssen wir sie viel mehr einladen.
Und wie kann die Politik Kinder und Jugendliche besser schützen?
Aktuell wird eine Änderung des Jugendschutzgesetzes verhandelt, die den Jugendschutz nun endlich ins digitale Zeitalter befördern soll. Ein wesentlicher Punkt dabei ist, dass bei der Altersbewertung von Spielen künftig die sogenannten Interaktionsrisiken ebenfalls berücksichtigt werden sollen. Beliebte Spiele wie „Clash of Clans“ könnten damit nicht mehr wie heute ab sechs Jahren freigegeben werden, da sie Chatfunktionen enthalten, über die Kinder von Sexualstraftätern, aber auch von Radikalisierern aus dem rechten, linken und islamistischen Spektrum angesprochen werden können. Was wir schon länger fordern: Wir brauchen gesetzlich verbindliche Kinderschutzstandards – und hier ist diese Änderung im Jugendschutzgesetz ein erster Schritt. Aus unserer Sicht sollten die Anbieter außerdem geschulte Moderatoren bereithalten, an die sich Kinder wenden können, wenn sie in Not geraten. Denn Kinder brauchen Ansprechpartnerinnen und -partner statt umständliche Meldefunktionen.
Was sind weitere wichtige Faktoren, um einen wirkungsvollen Kinderschutz im Netz auf den Weg zu bringen?
Anbieter sitzen in unterschiedlichen Ländern, deshalb muss wirkungsvoller Kinderschutz weltweit etabliert sein. Außerdem muss er den Einsatz von Filtern gegen Cybergrooming erlauben, wie sie etwa Microsoft mit der Non-Profit-Organisation Thorn entwickelt hat. Das sind Analysetools, die in einem Chatverlauf spezifische Wörter und Redewendungen erkennen und verdächtige Nachrichten an menschliche Moderatoren weiterleiten. Oft wird in diesem Zusammenhang direkt die Privatsphären- und Datenschutzdebatte aufgemacht. Das finde ich seltsam, denn Spam- und Phishingfilter für E-Mails funktionieren technisch ähnlich und sind für uns ja auch kein Problem. Überhaupt müssen wir die Anbieter viel mehr in die Pflicht nehmen, denn das bisherige System der Selbstkontrolle bei der Alterskennzeichnung hat natürliche Grenzen.
Verfügen die Strafverfolgungsbehörden bereits über genug Personal und Ressourcen?
Die Strafverfolger sind nicht gut genug ausgestattet, um die gewaltigen Datenmengen auszuwerten, die bei großen Missbrauchsfällen sichergestellt werden. 85 Terabyte sind es alleine beim sogenannten Tatkomplex Bergisch Gladbach, in dem nach wie vor Gerichtsprozesse anhängig sind und neue Tatverdächtige festgenommen werden. Auch die Justiz muss aufgestockt werden, denn immer noch viel zu häufig müssen Verfahren einfach deshalb eingestellt werden, weil die Datenauswertung nicht innerhalb der gesetzlichen Fristen gelingt. Außerdem brauchen wir offizielle Onlinestreifen, also Strafverfolger, die in digitalen Medien sichtbar und ansprechbar sind für Menschen in Not.
Wie können Eltern erkennen, dass ihre Kinder im Netz sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind?
Wenn ich beobachte, dass sich mein Kind verändert, sich zurückzieht, wenn ich beginne mir Sorgen zu machen, dass sexuelle Gewalt dabei eine Rolle spielen könnte, dann gilt es, nicht überzureagieren, aber die Sorge auch nicht gleich herunterzuspielen. Machen Sie den ersten Schritt und bleiben Sie damit nicht alleine! Sprechen Sie mit Ihrem Partner, mit Freunden, wenden Sie sich an das Hilfetelefon Sexueller Missbrauch (0800 22 55 530) oder an eine Beratungsstelle in Ihrer Nähe. Betroffene Kinder haben große Schwierigkeiten, sich mitzuteilen. Sie schämen sich, möchten ihren Eltern keine Sorgen bereiten und wollen auch nicht, dass ihre Eltern sich für sie schämen. Sie versuchen, ihre Eltern zu schützen. Leider versuchen Eltern auch allzu oft, sich selber zu schützen, indem sie sagen, ihrem Kind könne so etwas nicht passieren. Das stimmt einfach nicht! Rufen Sie deshalb lieber einmal zu viel beim Hilfetelefon an als einmal zu wenig.
Die deutsche Sektion von „Innocence in Danger“ wurde 2003 gegründet. Wie hat sich seitdem die politische und gesellschaftliche Aufmerksamkeit für sexuellen Missbrauch verändert?
Durch die Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule und am Canisius-Kolleg 2010 hat das Problem sexuellen Missbrauchs erneut eine große öffentliche Relevanz bekommen, die heute niemand mehr infrage stellt. Das ist eine große Errungenschaft und wahnsinnig wichtig. Bedauerlicherweise werden Gesetzesänderungen aber nach wie vor meist erst in Reaktion auf große Missbrauchsfälle diskutiert und nicht selten dann schnell gestrickt auf den Weg gebracht. Das können wir gründlicher und besser machen, wenn wir früher damit anfangen. Laut der MiKADO-Studie, die das Bundesfamilienministerium in Auftrag gegeben hat, teilen sich nur ein Drittel der von sexueller Gewalt betroffenen Menschen überhaupt jemandem mit. Das ist erschütternd wenig. Der positive Befund der Studie ist allerdings, dass 80 Prozent dieser Menschen eine gute Erfahrung damit gemacht haben, sich anderen zu offenbaren. Da hat sich etwas verbessert, und das hat damit zu tun, dass wir uns tatsächlich mit diesem Thema auseinandersetzen. Wir begreifen langsam: Sexueller Missbrauch ist ein Dauerproblem, das leider auch mit noch so guter Prävention nicht verschwinden wird. Und das bedeutet, dass wir früher intervenieren müssen. Wir müssen Täter und Täterinnen schneller erkennen, um Kinder besser zu schützen.
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ZUR PERSON
© privat
Die Psychologin Julia von Weiler arbeitet seit 30 Jahren zum Thema sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen in unterschiedlichen Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe. Seit 2003 leitet sie den Verein „Innocence in Danger“, die deutsche Sektion des internationalen Netzwerks gegen sexuellen Missbrauch. Sie ist Autorin des Elternratgebers „Im Netz: Kinder vor sexueller Gewalt schützen“.