22. Februar 2018
Banken, Versicherungen, Musikindustrie, Warentransport: Es gibt kaum einen Lebensbereich, den Blockchain nicht grundsätzlich auf den Kopf stellen soll. #explore klärt auf, was hinter der Technologie steckt und wie sie schon heute unser Leben bequemer und sicherer machen kann.
Stellen wir uns vor: Ein Lebensmittelproduzent in Argentinien verkauft Rindersteaks nach Frankreich. An jeder Kühlbox klebt ein smarter Sensor, der jederzeit aufzeichnet, welche Wege das Fleisch zurückgelegt hat, wo es umgeladen und vor allem bei welcher Temperatur es transportiert wurde. Gespeichert werden diese Daten in einer Art digitalem Kassenbuch, von dem alle an der Lieferkette Beteiligten automatisch Kopien bekommen. Fällt unterwegs die Kühlung im Lkw aus, kann also niemand nachher die Papiere frisieren und das vergammelte Fleisch als Frischware verkaufen. Schließlich können alle beweisen: Das Fleisch fuhr über Stunden bei sommerlichen 30 Grad.
Die digitale Datenbank mit einem entscheidenden Dreh
Das digitale Kassenbuch in diesem Zukunftsszenario ist das, was man sich unter einer Blockchain vorstellen kann. Bekannt geworden ist die Blockchain als technologisches Rückgrat der Kryptowährung Bitcoin. Doch während heute nicht nur die Medien täglich auf das Platzen der Bitcoin-Blase warten, wird die Blockchain bereits als „Betriebssystem der vernetzten Welt“ gefeiert, wie es der Strategieberater Karl-Heinz Land formuliert hat. Das Besondere an dieser Technik? Im Kern ist die Blockchain eine digitale Datenbank mit einem entscheidenden Dreh: Während eine klassische Datenbank von ihrem Betreiber jederzeit geändert oder von einem Hacker manipuliert werden kann, werden die Einträge in der Blockchain dezentral auf allen Rechnern im Netzwerk gespeichert. Sämtliche Teilnehmer der Blockchain erhalten also eine Kopie des Eintrags. Jede nachträgliche Änderung würde deshalb sofort auffliegen. „Das führt dazu, dass man unter den Netzwerkteilnehmern über die Korrektheit dieser Daten Vertrauen schaffen kann“, erklärt Sebastian Förtsch, der sich im Innovation Space von TÜV NORD mit neuen Geschäftsmodellen beschäftigt.
„Die Blockchain wird bestehende Branchen oder Tätigkeiten nicht komplett ersetzen, sondern verändern und ergänzen.“
Alle erdenklichen Transaktionen könnten so schneller, transparenter, sicherer und direkter abgewickelt werden. Und zwar in allen Bereichen, in denen bislang Mittelsmänner oder Makler garantieren, dass bei einem Transfer alles mit rechten Dingen zugeht: ob im Bankwesen, in der Versicherungswirtschaft, auf dem Immobilienmarkt oder in der Rechteverwertung von Musik. Wenn etwa heute ein Grundstück seinen Besitzer wechselt, muss ein Notar den Eintrag im Grundbuch ändern. Mit der Blockchain könnte das prinzipiell automatisch passieren – eine Idee, mit der sich zum Beispiel auch die schwedische Regierung beschäftigt. Die Macher von Syscoin wollen wiederum eine Art eBay ohne eBay aufbauen: Sie wollen einen Onlinemarktplatz schaffen, über den Käufer und Verkäufer direkt miteinander verhandeln können, und das günstiger als auf den bisherigen Plattformen, weil die Vermittlungsgebühr deutlich niedriger ausfällt. Und das Start-up-Unternehmen PeerTracks will mithilfe der Blockchain Ordnung ins Rechte- und Lizensierungsgewirr der Musikindustrie bringen und so dafür sorgen, dass Musiker schneller und transparenter an ihre Tantiemen kommen, ohne den Umweg über Plattenlabel oder Rechteverwalter. „Technologisch lassen sich solche Geschäftsmodelle über eine Blockchain prinzipiell abbilden“, bestätigt auch Digitalisierungsexperte Förtsch.
Wie kommen die Daten in die Blockchain?
Vertrauen durch Fälschungssicherheit, das ist das große Versprechen der Blockchain. Aber nur weil Einträge nicht manipuliert werden können, ist nicht alles, was in der Blockchain landet, auch automatisch korrekt. Die Gretchenfrage für den TÜV NORD-Experten lautet deshalb stets: Wie kommen die Daten in die Blockchain? „Wenn das automatisiert und verifiziert geschieht, ist das immer ein guter Anwendungsfall“, sagt Sebastian Förtsch. Auf diese Weise will beispielsweise der Anbieter Axa mit der Flugversicherung Fizzy das Leben von Fluggästen erleichtern. Nimmt man die Blockchain-Police über die Website in Anspruch, wird sowohl der Kauf des Flugtickets als auch der spätere Schadensfall über das System abgewickelt. Denn die Software vergleicht, wann das Flugzeug abheben sollte und wann es tatsächlich gestartet ist. Dann schickt sie der Airline automatisch eine Rechnung über die Verspätung. Lästige Formulare, Telefonate oder E-Mails mit der Schadensabteilung wären damit passé.
Sicherheitsprüfung via Blockchain
Aber auch bei der Sicherheitsprüfung von Produkten könnte die Vernetzung von elektronischen Geräten mit einer Blockchain behilflich sein. Daran arbeitet etwa das Forschungsprojekt SAMPL mit einer Blockchain-Plattform für den 3-D-Druck. Das Prinzip: Jemand entwickelt eine Druckvorlage und stellt sie auf SAMPL ein. Ein anderer erwirbt eine Lizenz, um das Bauteil zweimal auszudrucken. Die Blockchain registriert dabei nicht nur, ob er sich daran gehalten hat; auch die sogenannten Metadaten des Druckers werden ausgelesen und in der Blockchain gespeichert. So lässt sich kontrollieren, ob beim Druck alles nach Plan verlief. „Wenn TÜV NORD ein solches Produkt zur Zertifizierung vorgelegt werden würde, dann würden die Prüfer automatisch auch über genaue Informationen verfügen, wie es produziert wurde“, erklärt Sebastian Förtsch.
Außerdem könnte die Blockchain für den Austausch von realen Gegenständen wie Wohnungen oder Autos verwendet werden. Das ist die Idee hinter Slock.it: Jeder Gegenstand, der sich über Bluetooth oder WLAN ansteuern lässt, könnte demnach zu einem mit der Blockchain kompatiblen „Slock“ werden – zum Beispiel das smarte Türschloss einer Wohnung, die man übers Wochenende an Touristen vermietet. Durch den Einsatz sogenannter Smart Contracts, einer Art automatischem Vertragsprotokoll, kann die Wohnung vermietet und sicher bezahlt werden. Auch Autos ließen sich so weitervermieten, ohne Carsharing-Anbieter ins Spiel bringen zu müssen.
Durch den Einsatz sogenannter Smart Contracts kann die Wohnung vermietet und sicher bezahlt werden. Auch Autos ließen sich so weitervermieten, ohne Carsharing-Anbieter ins Spiel bringen zu müssen.
Können Onlinemakler wie Airbnb und eBay oder Carsharing-Anbieter also bald dichtmachen? Sebastian Förtsch hat daran seine Zweifel. Schließlich leben viele dieser Plattformen nicht zuletzt von den Ideen ihrer Gründer und der Art und Weise, wie sie diese umsetzen. Neue Funktionen einzubauen oder einen optischen Frühjahrsputz der Website in Angriff zu nehmen, das kann schwierig und langwierig werden, wenn es für jede Änderung notwendig ist, dass sich die Mehrheit der Teilnehmer auf eine Variante einigen muss. „Deshalb kann es in manchen Bereichen von Vorteil sein, dass es eine zentrale Instanz gibt, die festlegen kann, wie gewisse Prozesse aussehen sollen“, so Förtsch.
Ohnehin warten große Unternehmen erst gar nicht darauf, sich von Blockchain-Start-ups die Butter vom Brot nehmen zu lassen. Sie experimentieren selbst mit den Möglichkeiten der Technik, um ihre Angebote zu verbessern und Prozesse zu beschleunigen. Gerade in der Finanzbranche schießen Blockchain-Projekte wie Pilze aus dem Boden. Die US-amerikanische Großbank JPMorgan etwa testet damit neue Wege der Interaktion zwischen Bank und Kunden. IBM wiederum arbeitet weltweit an über 400 Projekten mit unterschiedlichen Unternehmen. Gemeinsam mit dem Supermarktriesen Walmart tüftelt der Softwareentwickler zum Beispiel an einer Blockchain-Lieferkette für eine bessere Rückverfolgung von Lebensmitteln. Und der Reisekonzern TUI hat in einem ersten Praxistest das Projekt „BedSwap“ vorgelegt: Damit wird der Belegungszustand aller Betten in Echtzeit dargestellt, sodass freie Kapazitäten besser genutzt werden können. TUI will dadurch einerseits Mittelsmänner wie Booking.com oder Expedia überspringen und andererseits sowohl Kunden als auch Anbietern Zeit und Geld sparen.
Auch Sebastian Förtsch rechnet nicht damit, dass Banker oder Immobilienmakler um ihre Jobs bangen müssen. „Die Blockchain wird bestehende Branchen oder Tätigkeiten nicht komplett ersetzen, sondern verändern und ergänzen.“ Grundbucheinträge durch die Blockchain sind rechtlich in Deutschland ohnehin noch kein Thema. Und selbst wenn sich das eines Tages ändern sollte, wird der Beruf des Notars damit sicherlich nicht obsolet. „Wenn ein Notar zukünftig weniger Zeit für anspruchslose Routinetätigkeiten aufbringen muss“, ergänzt Förtsch, „hat er mehr Zeit für die wichtigen Fälle.“
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ZUR PERSON
© TÜV NORD
Sebastian Förtsch ist Innovationsmanager im Innovation Space von TÜV NORD in Hamburg. Hier beschäftigt er sich intensiv mit neuen Geschäftsmodellen, Zukunftstechnologien und ihrer Rolle für TÜV NORD. Zu seinen Themenschwerpunkten gehören Blockchain und Industrie 4.0.