17. Juni 2021
Surfen, texten, shoppen, durch die Stadt navigieren und ja, auch telefonieren: Smartphones sind aus dem Alltag vieler blinder oder sehbehinderter Menschen inzwischen kaum noch wegzudenken. Doch der Weg zu den digitalen Möglichkeiten ist für sie oft weiterhin mit Stolpersteinen gepflastert – oder schlimmstenfalls sogar verbaut. Wie es um die digitale Barrierefreiheit bestellt ist und wo es noch hakt, hat Domingos de Oliveira uns erklärt. Der Politikwissenschaftler ist von Geburt an blind und berät Behörden und Unternehmen in Sachen Barrierefreiheit.
Wie Bildschirme für Blinde hörbar werden
Dreißig App-Symbole, die sich dicht an dicht auf dem Display des Smartphones drängen – für Menschen mit Sehbehinderung bleiben sie bloß farbige Flecke. Um ihnen die Handynutzung zu erleichtern, bieten die einschlägigen Betriebssysteme diverse Bedienungshilfen: Lupenfunktion, veränderbare Schrift- und Symbolgröße, kontrastreichere Darstellung und invertierte Farben, also eine Farbumkehr, sodass Hintergründe schwarz werden und die Schrift weiß wird. „Das blendet weniger und macht Texte besser lesbar“, erläutert Domingos de Oliveira. Einmal vorgenommen, sind die Einstellungen in sämtlichen Apps aktiv – sofern sie diese Funktionen denn unterstützen. Und das sei längst noch nicht bei allen der Fall, so der Experte für Barrierefreiheit.
Für blinde Menschen steht und fällt die Smartphone-Nutzung mit einem verlässlichen Screenreader: Die Sprachausgabe liest alle Icons, Beschriftungen und Texte auf dem Display vor, vom Batteriestatus über den Namen eines Anrufenden bis zur App, die man gerade antippt. So kann man über den Touchscreen navigieren, ohne den Bildschirm zu sehen. Auf iPhones heißt der Bildschirmvorleser VoiceOver, bei Android TalkBack, auf Geräten von Samsung gibt es den Samsung Screenreader und VoiceView auf den Endgeräten von Amazon. Bestenfalls bietet der Screenreader auch eine Eingabehilfe per Sprache und ein akustisches Feedback bei der Bedienung und lässt sich mit Braille-Tastaturen koppeln, um in Blindenschrift lesen oder schreiben zu können.
Wie sich Android und iOS bei der Barrierefreiheit bewähren
Ob iOS oder Android – bei den Bedienungshilfen für Sehbehinderte liegen die Betriebssysteme für Domingos de Oliveira dicht beieinander: „Für Blinde ist aber Apple nach wie vor deutlich besser.“ VoiceOver biete mehr Einstellungsoptionen, die auch sauberer funktionierten. Bei seinem neuen Android-Handy ist der Experte für Barrierefreiheit bereits bei der Installation gescheitert: Damit Blinde ihr Smartphone selbst einrichten können, muss sich die Sprachausgabe direkt nach dem Einschalten aktivieren lassen. Apple hat das ganz einfach gelöst: Nach dreimaligem Druck auf die Seitentaste oder den Home-Button meldet sich der Bildschirmvorleser zu Wort. „Auf meinem Android-Smartphone ist mir das nicht gelungen – trotz aktuellem Betriebssystem“, so de Oliveira.
Wie AI blinden und sehbehinderten Menschen den Alltag erleichtern soll
Um Straßenschilder und Hausnummern zu erkennen oder Speisekarten und Fahrpläne zu studieren, nutzen Sehbehinderte häufig kleine Handfernrohre – sogenannte Monokulare. Der digitale Zoom der Smartphone-Kamera habe sich in Kombination mit dem großen Display heutiger Handys zu einer komfortablen Alternative gemausert, erklärt de Oliveira. In Kombination mit künstlicher Intelligenz kann die Kamera aber noch erheblich mehr, wie Seeing AI demonstriert. Die von Microsoft entwickelte App versteht sich als Schweizer Taschenmesser für Blinde und Sehbehinderte: Sie liest kurze Texte und längere Dokumente vor, erkennt Personen, Produkte und Geldscheine. Will man im Supermarkt wissen, ob die Dose Tomaten oder Bohnen enthält, kann man den Barcode scannen oder sich die Beschriftung vorlesen lassen. Ursprünglich nur auf Englisch, seit Ende 2019 auch auf Deutsch, Französisch, Spanisch, Japanisch und Niederländisch.
Auch eine Szenenbeschreibung ist in die App integriert. Schießt man ein Foto, schildert die KI, was sie darauf zu erkennen glaubt. „Das klappt in vielen Alltagssituationen schon recht gut“, befindet Experte de Oliveira. Blinden Menschen müsse die App aber mehr Hilfestellungen bei der Bedienung bieten. Akustische Hinweise beispielsweise, dass man die Kamera nicht gerade hält, ein Dokument mit der leeren Seite nach oben liegt oder die Lichtverhältnisse gute Ergebnisse verhindern: „Denn das kann man als Person, die gar nichts sieht, überhaupt nicht abgleichen.“
Geteilte Augen
Blinde oder sehbehinderte Menschen können sich auch die Augen von Freiwilligen „leihen“ – über die App Be My Eyes. Wollen sie wissen, ob die Milch im Kühlschrank abgelaufen ist, ob die Strümpfe zueinanderpassen und welche Farbe das Hemd hat, können sie einen Video-Anruf starten und ihre Kamera mit sehenden Menschen teilen. „Das ist eine große Hilfe, zumal Apps wie Seeing AI bei der Farberkennung fast immer danebenliegen“, sagt Domingos de Oliveira. Über 4,7 Millionen Freiwillige und rund 310.000 Blinde und Sehbehinderte verbindet die App nach eigenen Angaben. In den USA gibt es mit Aira ein ähnliches Angebot auch als Bezahldienst, den Sehbehinderte jederzeit hinzuziehen können, wenn sie nach einer Hausnummer suchen, die Wäsche sortieren oder die Haltestellen im Bus nur auf dem Display angezeigt werden. „So etwas bräuchten wir auch hier in Deutschland“, befindet der Experte.
Kleine Apps mit größeren Hürden
Im Alltag nutzt Domingos de Oliveira vor allem gewöhnliche Apps: Google Maps für den Weg durch die Stadt, die Wetter-App für den „Blick“ aus dem Fenster, Twitter als Draht zur Netzdebatte. Einschlägige App-Riesen wie Facebook, WhatsApp und eben Twitter schlagen sich nach seiner Erfahrung bei der Barrierefreiheit recht gut. Nicht zuletzt dank der strengen Beobachtung durch ihre Abermillionen User und Userinnen. „Jedes Mal, wenn Twitter Funktionen einbaut, die nicht hundertprozentig barrierefrei sind, gibt es einen kleinen Shitstorm.“ Und den wollen die Internet-Riesen nach Möglichkeit von vorneherein vermeiden. „Probleme gibt es vor allem bei kleineren Apps, die weniger stark im Fokus der Öffentlichkeit stehen“, sagt der Experte. Schwache Kontraste machen sie für sehbehinderte Menschen schlecht lesbar, Icons sind nicht beschriftet, Text wird nicht als solcher abgespeichert, sondern als Bild. Für den Screenreader gibt es dann nichts zu lesen, die App bleibt für blinde Menschen stumm.
Wo es noch hakt
Zwar müssen Websites und Apps öffentlicher Stellen bereits seit einigen Jahren barrierefrei sein, aber das ist längst noch nicht bei allen der Fall, stellt Domingos de Oliveira fest. „Wenn ich etwa einen Termin bei der Stadt buchen möchte für das Bürgerbüro, klappt das manchmal mit Haken und Ösen und manchmal überhaupt nicht.“ Das Problem aus Sicht des Experten: Entwicklerinnen und Entwicklern fehle es oft noch an Know-how in Sachen Barrierefreiheit, ihren Auftraggebern – ob Behörden oder Unternehmen – an Kompetenz, sie zu überprüfen.
Dabei würden von barrierefreien Angeboten längst nicht nur blinde oder motorisch eingeschränkte Personen profitieren. Ältere Menschen können etwa Kontraste schlechter erkennen; sie werden mit dem demografischen Wandel zunehmend zur Mehrheit. Trotzdem würden Entwicklerinnern und Entwickler die Barrierefreiheit allzu oft noch als eine Art Bonus betrachten. „Aber Barrierefreiheit ist eben keine Extraleistung, sondern eine Frage der Softwarequalität. Dieses Bewusstsein muss sich endlich durchsetzen“, plädiert Domingos de Oliveira.
Auch bei Behördenformularen sieht der Experte noch viel Luft nach oben. Die Steuererklärung etwa mit ihren diversen Tabellen und Spalten sei für blinde wie sehbehinderte Menschen extrem schwer zu überblicken. „Dass die eines Tages auf einen Bierdeckel passt, dürfte wohl ein Wunschtraum bleiben. Aber eine Vereinfachung der Steuererklärung würde mir und anderen das Leben enorm erleichtern.“ Das dürfte vielen sehenden Menschen ähnlich gehen.
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ZUR PERSON
© privat
Domingos de Oliveira ist Politikwissenschaftler, Onlineredakteur und von Geburt an blind. Der Experte für digitale Barrierefreiheit unterstützt Unternehmen und Organisationen wie etwa „Aktion Mensch“ dabei, ihre Apps und Websites barrierefrei zu machen.
Barrierefrei twittern
„Keep it simple“, so lautet Domingos de Oliveiras Faustregel für möglichst barrierefreie Tweets oder Posts auf Facebook oder Instagram. Auf Effekte und farbige Hintergründe sollte man verzichten und Emojis und Hashtags sparsam verwenden. Hashtags werden bei Twitter und Facebook blau hinterlegt: Das macht sie für Menschen mit Seheinschränkungen schlecht lesbar. Emojis werden Blinden über die Sprachausgabe ausführlich angesagt – und das stört den Lesefluss. Wenn man Videos veröffentlicht, sollte man sie möglichst mit Untertiteln versehen; Bildbeschreibungen machen Fotos für blinde Menschen hörbar. Bei Twitter verfasst man Bildbeschreibungen selbst, bei Facebook und Instagram kann man diese Aufgabe auch an eine KI delegieren.