13. Oktober 2022
Mehr als die Hälfte der gesamten Energie in Deutschland wird für die Wärmeversorgung genutzt – für warmes Wasser etwa, Büros oder die Prozesse in der Industrie. Und 84 Prozent dieser Energie stammen aus Kohle, Öl und Gas. Wollen wir bis 2030 zu 50 Prozent klimaneutral heizen, wie es die Bundesregierung beabsichtigt, muss sich einiges ändern. Die Geothermie gilt hier als vielversprechende Option. Doch die Wärme aus der Tiefe wird bislang noch wenig genutzt.
Die Zukunft der Wärmeversorgung hält sich im Münchner Heizkraftwerk Süd dezent im Hintergrund. Hinter den Schornsteinen des Gasheizkraftwerks läuft seit Sommer 2021 eine neue Geothermieanlage im Testbetrieb – laut Angaben der Stadtwerke München die größte in Deutschland und eine der modernsten in Europa. Aus rund 3.000 Metern Tiefe wird über 100 Grad heißes Thermalwasser aus der Erde gepumpt. Der flüssige Schatz hat sich hier in kleinen Hohlräumen und Spalten der über fünf Millionen Jahre alten Kalksteinschicht angereichert.
An der Erdoberfläche wird das heiße Wasser durch dicke Rohre zu Wärmetauschern geleitet. Die entziehen dem Thermalwasser die Wärme, die anschließend in das Fernwärmenetz übertragen wird. Das auf 60 bis 70 Grad abgekühlte Tiefenwasser wird dann über ein zweites Bohrloch wieder zurück in die Gesteinsschicht geleitet, aus der es gefördert wurde. Ein an der Oberfläche geschlossener Kreislauf: Klimaschädliche Bestandteile des Thermalwassers wie CO2 oder Methan werden nicht freigesetzt.
Im Vollbetrieb wird die 50-Megawatt-Anlage in Sendling genug Energie liefern, um die Wohnungen von 80.000 Münchnerinnen und Münchnern zu wärmen. Klimaschonend, kostengünstig, preisstabil und zu jeder Tages- und Jahreszeit. Bis 2040 will die Stadt ihre gesamte Fernwärme aus erneuerbaren Energien decken – und das größtenteils mit Geothermie.
Die Geothermieanlage im Heizkraftwerk Süd der Stadtwerke München liefert Wärme für mehr als 80.000 Menschen.
Ungenutzte Möglichkeiten?
Das Potenzial des Thermalwassers aus der Tiefe ist gewaltig – so zumindest das Ergebnis einer Studie des Fraunhofer-Instituts und der Helmholtz-Gesellschaft. Allein über die hydrothermale Geothermie, die heißes Wasser aus 400 bis 5.000 Metern Tiefe fördert, ließe sich rund ein Viertel des Wärmebedarfs in Deutschland decken, so die Forschenden.
Doch während auf der Vulkaninsel Island bereits 90 Prozent der Wärmeenergie aus der Erde kommen, ist der Anteil der Geothermieanlagen in Deutschland noch recht überschaubar. 42 sind es aktuell, das neue Werk in München-Sendling noch nicht eingerechnet. Zusammen produzieren sie knapp 360 Megawatt an Wärmeenergie und 45 Megawatt Strom – weniger als allein im Gasheizkraftwerk Köln-Niehl II erzeugt wird.
Um die Chancen durch die Geothermie zu nutzen und die Klimaziele zu erreichen, müssten in den kommenden Jahren Tausende neue Löcher gebohrt und Anlagen gebaut werden, so die Forschenden von Fraunhofer-Institut und Helmholtz-Gesellschaft.
Warum es so langsam vorangeht
Ergiebige unterirdische Wasserreservoire gibt es nicht überall, und nicht überall ist die Temperatur in erreichbarer Tiefe hoch genug. Besonders vielversprechende und bereits genutzte Gebiete liegen im Molassebecken in Süddeutschland. Oder im Oberrheingraben, der von der Schweizer Grenze bis über Wiesbaden reicht. Und im Norddeutschen Becken, das neben Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin auch größere Teile von Niedersachsen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt umfasst.
Und während in einigen dieser Gebiete der Untergrund zumindest in groben Zügen erkundet ist, sieht es andernorts noch völlig anders aus, erklärt Silke Bißmann, Geologin bei der TÜV NORD-Tochter DMT: „Viele Regionen mit einem hohen Potenzial für Geothermie sind aktuell noch weiße Flecken auf der Landkarte.“ Eine Verbesserung der Datengrundlage gilt unter Fachleuten wie Bißmann als elementar für den Ausbau der Geothermie. Und die hat sich auch die Bundesregierung in den Koalitionsvertrag geschrieben. Nordrhein-Westfalen will hier seinerseits mit gutem Beispiel vorangehen.
Auf Potenzial-Suche: DMT-Vibro-Trucks erkunden in Teilen von NRW die geothermische Situation des Untergrunds.
Mit Schallwellen den Untergrund ausloten
Ab diesem Oktober rollen sogenannte Vibro-Trucks von Viersen über Düsseldorf nach Duisburg, um die geothermische Situation des Untergrunds zu erkunden. Die Trucks erzeugen mittels Rüttelplatten Vibrationen auf dem Boden, die sich im Untergrund als Schallwellen ausbreiten, die wiederum von den unterschiedlichen Gesteinsarten reflektiert werden. Tausende Sensoren nehmen diese Signale an der Erdoberfläche auf. Aus den dabei entstehenden Daten erstellt der Geologische Dienst NRW dann ein zweidimensionales „Schnittbild“ des Untergrunds.
2021 hat die Landesregierung auf diese Weise bereits einige weiße Flecken im Münsterland gefüllt – und dabei vielversprechende Strukturen in den Gesteinsschichten entdeckt. Wärmeversorger, Industrie und Kommunen können diese Daten nun als Grundlage für eigene Untersuchungen nutzen. Und mittels 3-D-Seismik (siehe Kasten) geeignete Stellen für Geothermieanlagen identifizieren.
Hohe Investitionskosten
Hundertprozentige Gewissheit kann aber auch eine noch so gute Vorerkundung nicht bieten. „Jede zehnte Bohrung ist nicht erfolgreich, liefert also nicht genügend Wasser der erforderlichen Temperatur“, erklärt Boris Dombrowski, stellvertretender Leiter Geo-Energie & Ressourcen bei DMT. Und eine einzelne Bohrung kostet nach Angaben der Stadtwerke München acht bis 15 Millionen Euro. Für lokale Wärmeversorger kann ein solcher Verlust das Aus bedeuten, sagt Geophysiker Dombrowski. Viele scheuen deshalb vor dem finanziellen Risiko zurück.
Die Bundesregierung hat daher nun die Bundesförderung für effiziente Wärmenetze (BEW) aufgelegt, die seit Mitte September auch Geothermieanlagen mit bis zu 40 Prozent der Investitionskosten fördert. Für Branchenverbände zwar ein Schritt in die richtige Richtung, doch die Gesamtfördersumme sei aktuell noch deutlich zu niedrig. Außerdem brauche es eine staatlich unterstützte Fündigkeitsrisikoversicherung, wie sie die Bundesregierung im Koalitionsvertrag ins Auge gefasst hatte. Eine solche Versicherung soll bei Misserfolg einen Teil des Verlustes ersetzen. „Erst das wäre eine Gleichstellung der Geothermie mit anderen Energieträgern. Denn ein Stadtwerk hat sich bisher nie um Exploration und Förderung des Rohstoffs Gas oder Öl kümmern müssen, sondern nur um dessen Einkauf“, sagt der Energieexperte Dombrowski.
Eine Frage der Transparenz
Nicht zuletzt müsse die Akzeptanz für Geothermieprojekte durch begleitende Maßnahmen gefördert werden, mahnen die Branchenvertreter. Und um die ist es nicht allerorten gleichermaßen gut bestellt. Denn seit 2008 in Basel eine Geothermiebohrung für kleinere Erdbeben sorgte, hält sich die Sorge vor möglichen Folgen der Technologie. Dabei gelten hydrothermale Geothermieanlagen, wie sie in Deutschland im Einsatz sind, als erheblich weniger erdbebenanfällig. „Außerdem kann man risikoreiche Zonen im Untergrund mittlerweile besser identifizieren und Planungen entsprechend anpassen“, sagt Simon Kremers, der sich bei DMT mit menschengemachten Erdbeben beschäftigt. Beim Betrieb von Geothermieanlagen wird die seismische Aktivität in der Umgebung dann durch Sensorsysteme überwacht. „Das Risiko der Erzeugung spürbarer Erdbeben ist sehr gering, aber natürlich nicht gleich null“, so Kremers.
Daher sei es unverzichtbar, die Menschen vor Ort transparent zu informieren und in die Planungsprozesse einzubinden, sagt der Geophysiker. Wie das aussehen kann, zeigt ein Geothermieprojekt im Breisgau, bei dem sich ein Bürgerschaftsrat nach ausführlicher Befragung von Expertinnen und Experten mit großer Mehrheit für die geplante Anlage ausgesprochen hat. Viele Bürgerinnen und Bürger wünschten sich zudem eine schnelle Umsetzung des Projekts.
Bislang kann es allerdings acht bis zehn Jahre dauern, bis schließlich heißes Wasser aus der Tiefe sprudelt. Durch beschleunigte Planungsprozesse, eine verbesserte Vorerkundung und eine standardisierte Fertigung der Geothermieanlagen ließe sich dieser Prozess auf zwei bis drei Jahre verkürzen, sagt Boris Dombrowski von DMT: „Und da müssen wir hin, wenn wir die Wärmewende schnellstmöglich schaffen wollen.“
ZUR PERSON
Dr. Boris Dombrowski ist Geothermie-Experte bei DMT. Der studierte Geophysiker mit Zweitstudium Business Administration ist stellvertretender Leiter der Einheit Geo-Energie und Rohstoffe.
ZUR PERSON
Dr. Simon Kremers ist Experte für menschlich verursacht Erdbeben bei DMT. Der studierte Geophysiker und Seismologe arbeitet in der Fachstelle für Erschütterungsmessungen und leitet Projekte im Bereich der Geothermie, Erdöl- und Erdgasförderung.
ZUR PERSON
Silke Bißmann, seit über 15 Jahren als Dipl. Geologin im Bereich Seismik-Projektleitung bei DMT tätig.
Wie sich 2-D- und 3-D-Seismik unterscheiden
Das Grundprinzip ist bei beiden Verfahren zunächst einmal dasselbe: Vibro-Trucks erzeugen mit einer absenkbaren Rüttelplatte leichte Vibrationen im Boden. Diese breiten sich wie Schallwellen bis in mehrere Kilometer Tiefe im Untergrund aus. Sie werden von den Gesteinsschichten reflektiert – wie das Licht von einem Spiegel. An der Erdoberfläche sind Tausende von Sensoren (Geophone) ausgelegt, um diese reflektierten Signale aufzuzeichnen. Bei der 2-D-Seismik werden diese Geophone entlang einer einzigen Linie ausgelegt. Das dabei entstehende Untergrundbild ist zweidimensional, also ein „Schnittbild“ durch den Untergrund entlang der Messlinie. Es gibt einen ersten Überblick über die Tiefenlage, die Struktur und die Mächtigkeiten der Gesteinsschichten.
Bei der 3-D-Seismik werden die Geophone gleichmäßig verteilt über mehrere Quadratkilometer an der Erdoberfläche ausgelegt. Das Ergebnis ist ein dreidimensionales Untergrundmodell, umfasst also Länge, Breite und Tiefe der Gesteinsschichten und geologische Störungen. Dadurch wird das gesamte Thermalwasserreservoir in seiner Tiefenlage und Ausdehnung erfasst, und man ist nun in der Lage, die Bohrungen zielgenau auszurichten.
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