21. März 2019
Der demografische Wandel macht sich in kaum einem anderen Bereich so bemerkbar wie in der Pflege. Während die Anzahl der Pflegebedürftigen wächst, scheiden gerade ältere Fachkräfte aufgrund der hohen Belastung oft frühzeitig aus. Um dem akuten Personalmangel entgegenzuwirken, sollen künftig auch elektronische Pflegehelfer zum Einsatz kommen.
Im Bauch des Uniklinikums Köln sind sie bereits unterwegs: 91 Roboter surren durch das sechs Kilometer lange System aus Gängen und Fluren, das die Klinikgebäude unterirdisch miteinander verbindet. Entwickelt wurden die flachen Roboterwagen ursprünglich für die Industrielogistik. In der Kölner Uniklinik transportieren sie Rollcontainer, die etwa Essen oder Wäsche für die Patienten enthalten. Auf ihren bis zu 3.000 täglichen Fahrten, die von einem Zentralcomputer gesteuert werden, folgen sie festen Fahrspuren, an denen sie sich durch Sensoren orientieren. Auch in der Uniklinik Jena oder im Krankenhaus Nord in Wien bringen batteriebetriebene Logistikroboter Speisen und Materialien von A nach B – unbemerkt von Patienten oder Besuchern. Doch bald könnten Letztere oder auch die Bewohner von Altenheimen tagtäglich mit Robotern in Kontakt kommen. Und das hat ganz pragmatische Gründe.
Roboter gegen den Pflegenotstand
Rund 35.000 Pflegekräfte fehlten Berechnungen der Bundesregierung zufolge 2017 in deutschen Krankenhäusern und Pflegeheimen. Besonders dramatisch ist die Situation in der Altenpflege: Auf 100 offene Stellen kamen nur 21 arbeitslose Fachkräfte. Ein Problem, das sich durch den demografischen Wandel weiter verschärft: 2025 werden 200.000 Pflegekräfte fehlen, prognostiziert das Statistische Bundesamt. Die Bertelsmann-Stiftung spricht in einer Studie gar von 430.000 unbesetzten Stellen für 2030. Um dem Personalmangel entgegenzuwirken, sollen künftig auch elektronische Helfer in der Pflege zum Einsatz kommen. In Japan, wo die Geburtenraten im Vergleich mit anderen Industrienationen besonders niedrig und die Zahl der Rentner überdurchschnittlich hoch sind, wird bereits seit Jahren mit Robotern im Pflegebereich experimentiert. Auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung will das Potenzial für Roboter in der Pflege ausloten und fördert Pilotprojekte in diesem Bereich mit 20 Millionen Euro.
So unterstützt das Bildungsministerium beispielsweise das Projekt „Anwendungsnahe Robotik in der Altenpflege“ (ARiA) der Fachhochschule Kiel und der Universität Siegen. Die Forscher besuchen etwa eine Demenz-Wohngruppe in Kiel mit der Roboterdame „Emma“. Die macht mit den Bewohnern Gedächtnistraining, spielt Memory, stellt Quizfragen, tanzt oder liest ihnen vor. Emma heißt eigentlich „Pepper“ und wurde von einer Tochterfirma des japanischen Technologiekonzerns Softbank dafür entwickelt, menschliche Sprache, Gestik und Mimik zu erkennen. Hotelketten nutzen sie am Empfang, am Flughafen in München erklärt sie den Weg zum Terminal, aber eben auch Pflegeforscher haben die rund 17.000 Euro teure Roboterdame mit den Kulleraugen für sich entdeckt. Die Forscher aus Kiel und Siegen wollen herausfinden, wie ein solcher Roboter die Lebensqualität von Senioren verbessern „und Pflegekräfte unterstützen kann“, so Volker Wulf, Professor für Wirtschaftsinformatik an der Universität Siegen. Dazu testen sie, wie Bewohnerinnen und Bewohner sowie Pflegekräfte auf Pepper reagieren, und entwickeln in Kooperation mit Letzteren Anwendungen für den Roboter, mit denen dieser die Senioren beruhigen, aktivieren oder ihr Gedächtnis anregen kann. Das ist besonders für Demenzpatienten wichtig. Ersetzen soll der Roboter menschliche Pflegekräfte allerdings nicht, sondern diese vielmehr entlasten – damit ihnen letztlich mehr Zeit bleibt, um sich um die Senioren kümmern zu können.
Entlasten, nicht ersetzen
Überhaupt werden die meisten sozialen Tätigkeiten, die einen Großteil der Pflege ausmachen, weiterhin Spezialgebiet menschlicher Pflegender bleiben, betont Birgit Graf vom Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA. „Zwischenmenschliche Kommunikation oder Interaktion werden Roboter auch langfristig nicht so gut beherrschen, dass sie Menschen ersetzen können“, sagt die Leiterin der Gruppe Haushalts- und Assistenzrobotik am IPA. Zuhören, trösten, sich einfühlen und auch wortlos Bedürfnisse verstehen, das ist den elektronischen Helfershelfern nicht gegeben. Wie Roboter aber Pflegerinnen und Pfleger zeitlich und körperlich entlasten können, daran forscht Ingenieurin Graf mit ihren Kollegen in Stuttgart.
„Zwischenmenschliche Kommunikation oder Interaktion werden Roboter auch langfristig nicht so gut beherrschen, dass sie Menschen ersetzen können.“
Damit das Personal künftig weniger Zeit für Laufwege und die Dokumentation von verbrauchtem Material aufwenden muss, hat das Team im Rahmen des Projekts „SeRoDi“ unter anderem mit dem Hersteller MLR einen „intelligenten Pflegewagen“ entwickelt. Per Smartphone ruft die Pflegekraft ihn an den gewünschten Einsatzort, dann navigiert er selbstständig zum Ziel und kann dabei falls nötig auch einen Fahrstuhl nutzen. Mithilfe eines 3-D-Sensors erkennt der Pflegewagen das entnommene Material. Wird es knapp oder geht der Akku zur Neige, fährt er nach Freigabe durch das Personal selbsttätig ins Lager oder an die Ladestation.
Intelligenter Pflegewagen
Getestet wurde der Pflegewagen über mehrere Wochen in zwei Seniorenheimen und in der Universitätsklinik in Mannheim. War er in den Heimen für den Wäschetransport zuständig, versorgte er die Pflegekräfte in der Klinik mit Verbandsmaterial. Das steckt in sogenannten Modulkörben, die in der Krankenhauslogistik gefüllt und vom Personal auf den Stationen unkompliziert gewechselt werden können. In einem nächsten Schritt soll auch der Wechsel der Körbe automatisch erfolgen, um den zeitlichen Aufwand für das Personal weiter zu reduzieren. Doch bereits jetzt hätten die Pflegekräfte die Unterstützung durch den Pflegewagen als Entlastung wahrgenommen, erzählt Ingenieurin Graf.
© Fraunhofer IPADer intelligente Pflegewagen ist „auf Zuruf“ per Smartphone zur Stelle und bringt, was gerade nötig ist.
Wie die Transportroboter in der Uniklinik in Köln fährt der Pflegewagen auf festgelegten Fahrspuren. Kreuzt ein Hindernis seinen Weg, umfährt er es und biegt zurück auf die Spur. Damit der Pflegewagen im zackigen Takt des Pflegealltags nicht hinterherrollt, aber auch keine Patienten durch ein allzu forsches Tempo erschreckt, kann er seine Geschwindigkeit dynamisch und situativ anpassen. Erkennen seine Sensoren eine Hürde, drosselt er vorausschauend sein Tempo. Um die Fahrweise des Roboters weiter zu optimieren, arbeiten Graf und ihre Kollegen gerade an einem Sensor, der zwischen Personen und anderen Hindernissen unterscheiden kann. „Wenn etwa ein Essenswagen auf dem Gang steht, kann er schneller daran vorbeifahren, als wenn dort eine Person läuft“, erläutert die Ingenieurin des IPA.
Der Roboter reicht Getränke
Neben dem intelligenten Pflegewagen machten die Bewohner des Seniorenzentrums Waldhof in Mannheim auch Bekanntschaft mit dem robotischen ServiceAssistenten. Saßen sie im Aufenthaltsraum, rollte der ServiceAssistent heran, um ihnen per Sprachausgabe ein Getränk anzubieten, das sie sich via Touchscreen aussuchen konnten. Dazu wurde er vorab von den Pflegekräften mit Getränken bestückt und auf die Runde geschickt. Dann berechnete er anhand einer Umgebungskarte selbst die optimale Route zu den Bewohnern. Berührungsängste hatten die Senioren keine, erzählt Graf. Und auch bei den Pflegerinnen und Pflegern kam der Roboter-Assistent gut an. „Das Feedback war sehr gut, gerade weil das Personal nicht die ganze Zeit vor Ort sein kann, um darauf zu achten, dass die Leute genug trinken“, so die Ingenieurin. In einer weiteren Entwicklungsstufe könnte der Roboter mit der Software für die Dokumentation gekoppelt werden, damit das Personal immer weiß, welche Getränke an wen ausgegeben wurden. Ebenfalls angedacht ist eine stärkere Individualisierung des Systems. Durch die Verknüpfung mit der Patientendatenbank könnte der ServiceAssistent künftig auch gezielt etwa auf Unverträglichkeiten einzelner Patienten reagieren.
Pflegekräften unter die Arme greifen
Auch die hohe körperliche Belastung in den Pflegeberufen sollen Roboter reduzieren helfen. Laut einer Befragung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin schleppen Pflegende mehr als Bauarbeiter. „In der Industrie, etwa in der Montage, gibt es unzählige Arbeitshilfen, um die körperliche Belastung auf ein Minimum zu reduzieren. Hier sehen wir großen Bedarf, auch Pflegekräfte mit solchen Hilfen auszustatten“, erklärt Ingenieurin Graf das Ziel. Roboter könnten beispielsweise beim Heben und Umbetten der Patienten mithelfen und so auch dafür sorgen, dass Fachkräfte wegen körperlicher Überlastung nicht vorzeitig aus dem Beruf ausscheiden. „Wenn es uns gelingt, die Leute zu halten, die schon lange in diesem Beruf arbeiten und ihn auch gerne weiter ausüben wollen, haben wir viel gewonnen“, sagt Birgit Graf. Gemeinsam mit ihrem Team hat die Ingenieurin etwa den Prototyp eines Multifunktionslifters namens „Elevon“ entwickelt, der selbstständig zum Einsatzort kommt und die Pflegekraft bei der Patientenaufnahme aktiv unterstützt. Solche Systeme serienreif zu machen sei aber nach wie vor mit technischen Herausforderungen verbunden, so die Expertin. Da die Roboter große Kraft benötigen, besteht bei eventuellen Fehlfunktionen auch ein erhöhtes Verletzungsrisiko für Patienten. „Um diese Systeme entsprechend sicher zu gestalten, müssen neue technische Lösungen erarbeitet werden, die aktuell noch nicht am Markt verfügbar sind“, stellt Graf fest.
© Fraunhofer IPAIm Seniorenzentrum Waldhof in Mannheim entlastet der ServiceAssistent die Pflegekräfte bei einer für Senioren besonders wichtigen Aktivität: der Flüssigkeitsaufnahme.
Auch Exoskelette bieten prinzipiell ein großes Potenzial, um den Pflegenden bei Hebetätigkeiten zu helfen. Ihre Entwicklung steht jedoch vor ähnlichen technischen Herausforderungen wie eigenständige Trageroboter. „Um sich in den Pflegealltag zu integrieren, müssen sie zudem schnell an- und abgelegt werden können und dabei möglichst unauffällig aussehen“, erklärt Graf. Die Senioren sollen schließlich keinen Schock bekommen, wenn die Robo-Pflegerin zur Tür hereinkommt.
Serienreife steht noch aus
Bislang sind Roboter für den Pflegeeinsatz auch international noch kaum über die Prototypen-Phase hinausgekommen. Laut Birgit Graf könnte sich das in den nächsten Jahren aber zunächst bei Transport- und Assistenzrobotern ändern. „Technisch sind diese Systeme bereits sehr weit entwickelt“, so die Ingenieurin. Auch wirtschaftlich könnte sich der Einsatz der kostspieligen Geräte rechnen: „Vorausgesetzt, die Aufgaben werden so ausgewählt, dass der Roboter durchgehend ausgelastet ist und nicht den halben Tag ungenutzt in der Ecke steht“, erläutert Graf. Dazu brauche es allerdings zusätzlich andere Möglichkeiten für Kliniken und Pflegeheime, um solche größeren Investitionen zu finanzieren. Denn die seien aktuell noch stark eingeschränkt. „Manche Hersteller denken hier schon über Leasing-Modelle nach. Aber aus meiner Sicht müssten auch entsprechende Finanzierungsmodelle von staatlicher Seite auf den Weg gebracht werden“, empfiehlt die Robotik-Expertin.
Die deutsche Bevölkerung steht dem Einsatz von Robotern in der Pflege auf jeden Fall recht aufgeschlossen gegenüber: 26 Prozent der Teilnehmer einer repräsentativen Umfrage der Techniker Krankenkasse rechnen damit, dass in zehn Jahren jeder Pflegebedürftige von einem Roboter unterstützt wird. Fast 60 Prozent würden sich heute bereits von einem Roboter helfen lassen.
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ZUR PERSON
© Fraunhofer IPA
Dr.-Ing. Birgit Graf ist Leiterin der Gruppe Haushalts- und Assistenzrobotik am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA in Stuttgart.