11. Februar 2021
Wasserstoff wird als Hoffnungsträger für umweltfreundlicheren Verkehr gehandelt. In vielen energiehungrigen Industriebereichen gilt das flüchtige Gas gar als alternativloser Königsweg zu mehr Klimafreundlichkeit. Stahlhersteller, Chemieunternehmen und Raffinerien wollen mit Wasserstoff aus Ökostrom künftig grüner produzieren.
Ob David gegen Goliath oder Tesla gegen die Autoriesen des Globus: Auf den Kleinen liegen manchmal die größten Erwartungen. Auf Wasserstoff trifft das in den letzten Jahren in jedem Fall zu. „Wasserstoff ist das Erdöl von morgen“, zeigt sich etwa Anja Karliczek überzeugt. Für die Bundesforschungsministerin ist das kleinste Element des Universums ein multifunktionaler Rohstoff für Verkehr, Wärme und Industrie. Zumindest wenn der Wasserstoff „grün“ entsteht – wenn also die nötige Energie, um das Wasser zu spalten, aus Ökostrom besteht. Gilt für Experten der batterieelektrische Antrieb im Auto als die energieeffizientere und kostengünstigere Variante, könnte das flüchtige Gas überall dort zum Tragen kommen, wo die großen und schweren Akkus an ihre Grenzen stoßen – also im Schwerlastverkehr an Land, zu Wasser und in der Luft. Besonders aber auch in der Industrie, die nach der Energieerzeugung und noch vor dem Verkehr mit rund 20 Prozent den größten CO2-Rucksack in Deutschland trägt. Hier hält man zunehmend große Stücke auf das erste Element des Periodensystems.
© BP Europa SEDie bp Raffinerie in Lingen aus der Luft
Grün statt grau
20 Milliarden Normalkubikmeter Wasserstoff werden jährlich alleine in Deutschland produziert, weltweit sind es 500 Milliarden. Das meiste davon wird mittels Dampfreformierung aus Erdgas gewonnen. Bei der Herstellung des „grauen“ Wasserstoffs wird viel CO2 freigesetzt – mit den bekannten Konsequenzen für das globale Klima. Zu den größten industriellen Nutzern zählen heute die Mineralölkonzerne. Jede Raffinerie verbraucht stündlich mehrere Tonnen Wasserstoff, um Kerosin, Diesel und Benzin zu entschwefeln. Dass sich der graue Wasserstoff aus Erdgas technisch gesehen problemlos mit dem grünen aus Ökostrom ersetzen lässt, hat BP bereits 2018 in einem Pilotprojekt demonstriert. In der Raffinerie in Lingen kamen über einen Monat 130.000 Kubikmeter des klimaneutralen Wasserstoffs zum Einsatz. Eine echte Premiere, die allerdings nur ein paar Prozent der insgesamt benötigten Menge abdeckte.
Selbst wenn der komplette Wasserstoff der Raffinerien eines Tages aus Elektrolyseuren käme, wären Benzin und Diesel damit natürlich nicht auf einen Schlag umweltfreundlich. Ihre Herstellung würde das Klima aber zumindest etwas weniger belasten. Schließlich entstehen bei der Produktion von einer Tonne grauem Wasserstoff zehn Tonnen CO2. In Lingen will BP nun eine erste Elektrolyseanlage installieren. Den Strom dazu liefern die Offshorewindparks des dänischen Unternehmens Ørsted in der Nordsee. 2024 soll die Anlage in Betrieb gehen und zunächst 50 Megawatt (MW) Leistung bringen. Genug, um BP zufolge 20 Prozent des konventionellen Wasserstoffs zu ersetzen. In einer zweiten Phase sollen die Elektrolyseure in Lingen auf 150 MW erweitert werden.
Konkurrent Shell ist schon einen Schritt weiter: 2020 hat der Konzern in seiner Rheinland Raffinerie in Wesseling bei Köln einen Elektrolyseur in Betrieb genommen. Mit einer Leistung von zehn Megawatt ist er nach Angaben des Unternehmens momentan der größte der Welt. Er produziert allerdings mit 1.300 Tonnen pro Jahr weniger als ein Prozent des Wasserstoffs, den die Raffinerie in Wesseling benötigt. In der nächsten Phase des Projekts soll eine 100-MW-Anlage entwickelt werden, die dann um die zehn Prozent des Bedarfs abdecken könnte.
Basismolekül der chemischen Industrie
Auch in der Chemiebranche wächst das Interesse an grünem Wasserstoff, der hier in einem ersten Schritt ebenfalls den grauen aus Erdgas ersetzen könnte. So entschwefeln etwa die H&R Ölwerke Schindler in Hamburg ihre Spezialöle für die Reifenindustrie, die Kosmetik- und die Lebensmittelbranche bereits mit Wasserstoff aus einem eigenen Elektrolyseur.
Benötigt wird Wasserstoff jedoch vor allem auch in enormen Mengen zur Produktion von Grundchemikalien. Etwa von Methanol, dem Ausgangsstoff von Formaldehyd, das beispielsweise zur Herstellung von Farbstoffen und Medikamenten verwendet wird. Besonders aber von Ammoniak, einer der meistproduzierten Chemikalien überhaupt, das überwiegend in der Düngemittelindustrie Verwendung findet. Power-to-X heißt das Prinzip, bei dem Strom in Wasserstoff und dieser dann in ein Synthesegas oder ein synthetisches Rohöl verwandelt wird. Von Treibstoffen über Kunststoffe bis Kosmetika lässt sich damit grundsätzlich alles herstellen, was man heute dem Öl aus der Erde abgewinnt.
Wasserstoff statt Kohlekoks
In der energieintensiven Stahlindustrie wird der grüne Wasserstoff gar als Schlüsselelement gehandelt, um die Klimaziele erreichen zu können. Weltweit ist die Branche für sieben Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich. Hauptgrund dafür ist Kohlekoks, der bei der Stahlreduktion in rauen Mengen verfeuert wird. Für jede Tonne Stahl gehen fast zwei Tonnen CO2 in die Atmosphäre. Ersetzen lässt sich der Koks mit Wasserstoff, was etwa ThyssenKrupp in Essen erfolgreich getestet hat. Pionier in diesem Bereich ist aber die Salzgitter AG, die bereits 2016 ein Pilotprojekt auf den Weg brachte. Im Sommer 2020 nahm das Unternehmen in seinem Hüttenwerk Salzgitter einen Elektrolyseur mit 720 Kilowatt in Betrieb. Bis 2022 will das Stahlschwergewicht nun eine erste Eisenerz-Direktreduktionsanlage bauen, die flexibel mit Erdgas und Wasserstoff betrieben werden kann.
Die Idee hinter dem Projekt, das vom Bund mit fünf Millionen Euro gefördert wird: Solange grüner Wasserstoff noch nicht in ausreichenden Mengen verfügbar ist, kann die Anlage überwiegend mit Erdgas betrieben werden, wodurch sich die CO2-Emissionen zu heute bereits mehr als halbieren ließen. Wird das Erdgas dann Schritt für Schritt vollständig durch grünen Wasserstoff ersetzt, soll der Kohlendioxidausstoß um 95 Prozent sinken. Bis 2050 will die Salzgitter AG ihre komplette Stahlproduktion mit Wasserstoff bewältigen.
Das hat natürlich seinen Preis. Die Wirtschaftsvereinigung Stahl kalkuliert mit 30 Milliarden Euro, um in den nächsten 40 Jahren sämtliche Stahlwerke in Deutschland umweltfreundlich umzurüsten. Mit dem Wasserstoff werden auch die Kosten der Stahlproduktion steigen. Eine Tonne grüner Stahl wäre nach einer Studie von Agora Energiewende voraussichtlich zwei Drittel bis doppelt so teuer wie der konventionelle von heute. Dieser Kostennachteil könnte aus Sicht der Experten etwa durch eine Quote für grünen Stahl und andere CO2-arme Erzeugnisse sowie einen CO2-Preis auf Produkte ausgeglichen werden.
Strategie für mehr H2
Noch ist grüner Wasserstoff nur in geringen Mengen und zu hohen Preisen zu haben. Das will die Bundesregierung mit ihrer im Juni 2020 verabschiedeten „Nationalen Wasserstoffstrategie“ ändern. Insgesamt neun Milliarden Euro sollen in die Förderung von Wasserstofftechnologien fließen – sieben Milliarden davon in den Aufbau einer Wasserstoffinfrastruktur in Deutschland, die restlichen zwei Milliarden in internationale Partnerschaften rund um das talentierte Molekül. Die Wasserstoffstrategie stelle die Weichen dafür, dass „Deutschland bei Wasserstofftechnologien die Nummer eins in der Welt wird“, so Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier . Um den Aufbau eines starken einheimischen Marktes zu fördern, sollen bis 2030 in Deutschland Elektrolyseanlagen mit einer Gesamtleistung von bis zu fünf Gigawatt entstehen. Seit Anfang 2021 sind Elektrolyseanlagen außerdem von der EEG-Umlage befreit, die die Herstellung des grünen Hoffnungsgases bislang unwirtschaftlich machte.
Doch auch wenn künftig mit wachsender Produktion die Mengen steigen und damit die Preise sinken: Grüner Wasserstoff wird auch dann immer noch teurer sein als sein fossiler Vorgänger und seine Herstellung immer eine Menge Strom benötigen. Zusätzliche 74 Terawattstunden wären laut Agora Energiewende erforderlich, um die hiesige Stahlbranche zu dekarbonisieren – ein Drittel des Ökostroms, der 2019 aus Wind, Sonne, Wasser und Biomasse in Deutschland gewonnen wurde. Die Chemiebranche rechnet ihrerseits für eine komplette Klimaneutralität bis 2050 mit zusätzlichen Investitionen von rund 45 Milliarden Euro und einem nahezu explosionsartigen Anstieg des eigenen Stromhungers. Bis 2050 dürfte den Kalkulationen zufolge der Energiebedarf der Branche von 54 Terawattstunden auf 628 Terawattstunden steigen – mehr als im Jahr 2020 in ganz Deutschland an Strom produziert wurde.
Wasserstoff aus der Wüste
Selbst wenn der aktuell stockende Ausbau der Erneuerbaren in den kommenden Jahren wieder beträchtlich an Fahrt aufnehmen sollte: Allein mit Ökostrom aus deutscher Produktion lässt sich der hiesige Wasserstoffbedarf nicht stillen. Im Rahmen ihrer Wasserstoffstrategie will die Bundesregierung daher Partnerschaften mit Staaten wie Chile, Australien und Marokko aufbauen. Der Wasserstoff soll in diesen wind- und sonnenreichen Ländern in größeren Mengen zu geringeren Kosten produziert und von dort nach Deutschland importiert werden. Deutsche und australische Forscher sollen dazu in einer Machbarkeitsstudie herausfinden, wie eine Wasserstoffpartnerschaft inklusive Transportinfrastruktur zwischen den beiden Industriestaaten aussehen könnte.
In Marokko wird bereits das erste Projekt um das verheißungsvolle Molekül angestoßen. Ende 2020 hat das deutsche Entwicklungsministerium der Regierung des nordafrikanischen Staates Kredite in Höhe von 90 Millionen Euro zugesagt, mit denen eine erste großtechnische Anlage für die Produktion von Wasserstoff in Afrika aufgebaut werden soll. In der ersten Ausbaustufe sollen die Elektrolyseure eine Kapazität von 100 Megawatt haben. Die Ausschreibung der Pilotanlage ist für dieses Jahr angesetzt. Der Elektrolyseur in der Wüste soll beweisen, dass eine wirtschaftliche Produktion von grünem Wasserstoff in Partnerländern möglich ist – und so auch den Grundstein für weitere Großprojekte legen. Läuft alles nach Plan, spricht vieles dafür, dass das kleine Molekül in den kommenden Jahren die großen Erwartungen endlich einlösen kann.
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Expertise in Sachen Wasserstoff
Ohne grünen Wasserstoff sind Energiewende und Klimaschutzziele nicht zu stemmen – das steht auch für die TÜV NORD GROUP außer Frage. Der Technologie-Dienstleister ist an diversen Projekten und den regulatorischen Bestimmungen rund um das multifunktionale Molekül beteiligt. Um den schnellen und nachhaltigen Aufbau der Wasserstoffwirtschaft voranzutreiben, hat sich TÜV NORD nun mit der Unternehmensgruppe BBH und der Strategieberatung Bingmann Pflüger International zusammengetan. Gemeinsam beraten die Experten Behörden, Kommunen und die Industrie bei sämtlichen Aspekten von Wasserstoffprojekten – von der Herstellung über Transport und Speicherung bis zur Nutzung des umweltschonenden H2.