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Zukunft des Bahnverkehrs

Digitale Weichenstellung

Wie die Digitalisierung den Zugverkehr voranbringen soll.

24. Juni 2021

Doppelt so viele Passagierinnen und Passagiere und deutlich mehr Güter als heute will die Deutsche Bahn bis 2030 befördern – und das ohne einen Meter zusätzliche Gleise. Digitalisierung, Automatisierung und künstliche Intelligenz sollen Züge in engeren Takten pünktlicher über die Schiene schicken und so die Verkehrswende anschieben. Einen Vorgeschmack auf die automatisierte Zukunft will der Konzern diesen Herbst in Hamburg geben.

„Digital ist besser“ sang die Band Tocotronic vor 26 Jahren. Dieser Songtitel war damals ironisch gemeint – doch die Erwartungen, die Unternehmen in die Digitalisierung setzen, könnten heute kaum größer sein. Das gilt auch für die Deutsche Bahn. Nichts weniger als eine Revolution des Bahnsystems verspricht sich der Konzern von seinem Großprojekt „Digitale Schiene Deutschland“: Stellwerke und Weichen sollen digital betrieben werden, die Leit- und Sicherungstechnik für Züge über Funk und Sensoren funktionieren. Und immer mehr Prozesse könnten automatisch ablaufen. Bis hin zu Zügen, in denen Lokführerinnen und Lokführer nur noch Überwachungsfunktionen übernehmen. Das Ziel des digitalen Wandels der Schiene: pünktlichere und zuverlässigere Züge, die in dichteren Abständen auf denselben Strecken erheblich mehr Menschen befördern und Waren transportieren können. Und das ohne zusätzliche Schienen.

 

Neun Meter neue Schiene

Der Ausbau des Schienennetzes in Deutschland stockt allerdings sowieso: 2019 kamen gerade einmal neun Kilometer hinzu. Das Netz der Bundesstraßen und Autobahnen wurde dagegen in dieser Zeit um 233 Kilometer neu oder ausgebaut. Verbände aus der Bahnindustrie fordern daher seit geraumer Zeit deutlich höhere Investitionen für den Ausbau der Bahninfrastruktur. Fest steht: Der Bau neuer Strecken ist aufwendig und beansprucht oft 20 Jahre und mehr. Fachleute machen neben anspruchsvollen Genehmigungsverfahren, Naturschutzbestimmungen und den Klagen von Anwohnerinnen und Anwohnern dafür vor allem fehlendes Fachpersonal in Behörden, der Bahn und in Bauunternehmen verantwortlich. Ein Mangel, der sich nicht von jetzt auf gleich beheben lässt. Mit der flächendeckenden Digitalisierung der Schiene will die Bahn daher das Optimum aus dem bestehenden Netz herausholen. Dazu muss sie zunächst einmal aus ihrer teils noch recht analogen Infrastruktur herauswachsen.

 

Weichen mit IP-Adresse

Viele der 2.600 Stellwerke in Deutschland sind mechanisch oder elektromechanisch. Manche stammen noch aus der Kaiserzeit. Eine digitale Schieneninfrastruktur lässt sich darauf nicht aufbauen. Die Bahn will daher Schritt für Schritt die analoge Technik aus dem Verkehr ziehen und durch digitale Stellwerke ersetzen. Statt wie bisher über ein Stromkabel werden die Steuerungsbefehle für Signale und Weichen dann über Datenleitungen aus Glasfaser übertragen.

Die entscheidenden Vorteile aus Sicht der Bahn: Die digitalen Stellwerke decken größere Bereiche ab, man kommt also mit erheblich weniger davon aus: 280 digitale Stellwerke sollen ausreichen, um den Zugverkehr auf dem 33.400 Kilometer langen Streckennetz in Deutschland zu steuern. Außerdem könne man auf digitalem Wege die Ursachen für Störungen und Ausfälle von Weichen und Signalen schneller erkennen und beheben. Nicht zuletzt kämen die digitalen Stellwerke mit wesentlich weniger teurer Verkabelung aus. Ihr volles Potenzial sollen die neuen Stellwerke aber erst im Zusammenspiel mit dem Europäischen Zug-Kontroll-System (kurz ETCS) entfalten, das die Bahn parallel in die Fläche bringen will.

Sicherungssystem mit Funk und Sensoren

Entwickelt wurde das ETCS, um den grenzüberschreitenden Bahnverkehr zu erleichtern. Der wird heute durch unterschiedliche nationale Zugleit- und Sicherungssysteme noch ausgebremst. Vor allem aber können dank der Technologie Züge in kürzeren Abständen auf derselben Strecke fahren. Ein Streckenabschnitt – im Bahnjargon Block genannt – darf bislang nur von einem Zug befahren werden. Angesichts potenziell kilometerlanger Bremswege ist ein ausreichender Abstand zum vorausfahrenden Zug andernfalls nicht immer gewährleistet.

Beim ETCS werden alle Züge über Funk, Sensoren und Transponder in den Gleisen – den sogenannten Eurobalisen – lokalisiert, und ihre Geschwindigkeit wird erfasst. Die Fahrbefehle erhält der Zug aus der ETCS-Streckenzentrale. Diese Computereinheit errechnet anhand der übermittelten Daten, welcher Streckenabschnitt frei ist und wie schnell der jeweilige Zug sicher unterwegs sein kann, ohne einen Auffahrunfall zu riskieren. Blockabstände werden somit überflüssig. Die Lokführerinnen und Lokführer sehen auf ihrem Bordcomputer bis zu 30 Kilometer des weiteren Fahrwegs, das System warnt sie frühzeitig, wenn sie langsamer fahren müssen, und leitet im Zweifelsfall automatisch eine Bremsung ein. 20 Prozent mehr Züge hofft die Bahn, auf diese Weise ins Netz zu bringen – und entsprechend auch mehr Passagierinnen und Passagiere. Auch die heute rund 160.000 Signale werden künftig nicht mehr gebraucht und können den Zugverkehr nicht mehr aufhalten, wenn sie ausfallen.

Digitale Tempoverschärfung?

Noch gibt es in Deutschland nur eine Handvoll digitaler Stellwerke. Und anders als in manchen europäischen Nachbarländern oder in China ist ETCS hierzulande nur auf wenigen Strecken im Einsatz: beispielsweise zwischen Berlin und Dresden, zwischen Erfurt und Leipzig/Halle sowie auf einem Teilabschnitt der ICE-Paraderoute Berlin–München. Doch das soll sich schneller ändern als ursprünglich geplant. Sieben veraltete Stellwerke auf Regionalstrecken in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Thüringen und Bayern werden vorzeitig auf digitale Technik umgerüstet. Finanziert werden die „Schnellläuferprojekte“ aus dem Corona-Konjunkturpaket des Bundes.

 

Hoch automatisiert durch Hamburg

Einen Vorgeschmack auf die Zukunft will die Bahn diesen Oktober in Hamburg auf dem ITS-Kongress geben, der weltgrößten Veranstaltung zu intelligenten Verkehrssystemen. Zwischen den S-Bahn-Stationen Berliner Tor und Bergedorf/Aumühle sollen dann erstmals hoch automatisierte Züge durch die Hansestadt rollen. Vier S-Bahn-Triebwagen werden dazu mit ETCS und dem ATO-System (Automatic Train Operation) ausgerüstet, und auch die 23 Kilometer lange Strecke wird entsprechend präpariert. Anfahren, Beschleunigen, Bremsen und Halten erledigen die Fahrzeuge alleine und öffnen an den Haltestellen auch selbstständig die Türen. Eine Fahrerin oder ein Fahrer ist aber weiterhin mit an Bord, um bei Störungen oder Unregelmäßigkeiten eingreifen zu können. Die einzige voll automatisierte Strecke wird der Wendepunkt der S-Bahn im Bahnhof Bergedorf sein: Dort steigt die Fahrerin oder der Fahrer mit den Passagierinnen und Passagieren aus und wartet, bis sich der automatisierte Zug wieder für die Fahrt in Richtung Berliner Tor positioniert hat. Die Zugsteuerungsinformationen für den voll automatischen Betrieb werden dabei über ein 5G-Mobilfunknetz übertragen, das die Bahn hier erstmals für diesen Einsatzzweck testet.

Durch den automatisierten Betrieb will die S-Bahn die Taktung der Züge von aktuell drei Minuten auf unter 90 Sekunden verkürzen, stellt Projektleiter Jan Schröder in Aussicht. So sollen deutlich mehr Züge auf derselben Strecke verkehren. Ist das Projekt erfolgreich, könnte es im gesamten Hamburger S-Bahn-Netz ausgerollt werden. Deutschlandweit könnte ein Großteil der Züge und Strecken im Nah- und Fernverkehr in den nächsten 15 bis 20 Jahren folgen, zeigt sich die Bahn optimistisch.

„Digitaler Knoten Stuttgart“

Der erste Großversuch in Sachen Automatisierung ist in Stuttgart geplant. Die Stammstrecke der dortigen S-Bahn ist chronisch überlastet. Im Rahmen des Baus von Stuttgart 21 muss das Streckennetz der Landeshauptstadt ohnehin mit neuer Leit- und Sicherungstechnik ausgerüstet werden. Bis 2025 sollen daher zunächst rund 125 Streckenkilometer der Fern-, Regional- und S-Bahn mit ETCS, ATO und einem digitalen Stellwerk ausgerüstet werden. Bis 2030 soll das gesamte Streckennetz bis zu den S-Bahn-Endhaltestellen folgen.

„Wir hoffen, dass wir dadurch in der Stunde statt 24 S-Bahnen 30 durch die Stuttgarter Stammstrecke bekommen“, sagt Kristian Weiland, Leiter des Konzernprogramms Digitale Schiene Deutschland gegenüber ZEIT Online. Auch Verspätungen könne die Automatisierung minimieren, indem die Züge auf die zulässige Höchstgeschwindigkeit beschleunigen und das Tempo drosseln, sobald sie wieder im Fahrplan sind. Ab 2030 soll dann das neue Verkehrsleitsystem TMS den Zugbetrieb weiter optimieren, das die Daten der Züge und der Infrastruktur sammelt und auswertet. Fahren etwa zwei Züge gleichzeitig auf einen eingleisigen Abschnitt zu, greift das TMS ein, indem es zum Beispiel einen der beiden frühzeitig verlangsamt. Unnötige Halte und Verspätungen werden damit vermieden. Weil die Züge weniger oft abbremsen und anfahren müssen, könne die dynamischere Verkehrsführung auch Verschleiß und Energieverbrauch senken. Deutschlandweit hofft die Bahn, allein durch die Maßnahmen der Digitalen Schiene 1,6 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr einzusparen. Immerhin drei Viertel der Menge, die 2017 durch Inlandsflüge verursacht wurde.