28. Juni 2018
Die Zahlen sprechen für sich: Rund 78 Millionen Drahtesel gibt es insgesamt in deutschen Haushalten. Radfahren erfreut sich wachsender Beliebtheit – bei Nutzern, aber auch in der Politik, die das Fahrrad zunehmend als probates Mittel gegen Verkehrs- und Umweltbelastung für sich entdeckt. Doch während Fahrradstädte wie Amsterdam oder Kopenhagen den Radverkehr schon seit Jahren intensiv fördern, besteht in Deutschland noch Nachholbedarf, mahnen Mobilitätsforscher.
Im niederländischen Utrecht rollt der Verkehr in der Rushhour leise auf zwei Rädern: Menschen jeden Alters, vom Banker im Anzug bis zum Studenten im Hoodie, fahren einträchtig an ihr Ziel. Autos gehören in der mit 340.000 Einwohnern drittgrößten Stadt der Niederlande zur Minderheit. 60 Prozent aller Wege im Zentrum Utrechts werden auf dem Drahtesel zurückgelegt, 40 Prozent sind es in der gesamten Region. Bis zu 150.000 Radler nutzen täglich die komfortablen Radwege, die an den Hauptstraßen konsequent von der Fahrbahn für Autos getrennt sind. So können sich auch Kinder, Senioren oder Gelegenheitsradler gefahrlos durch die Großstadt bewegen. Spezielle Brücken und Unterführungen sorgen zudem dafür, dass die Radfahrer zügig vorankommen. Wer im richtigen Tempo unterwegs ist, reitet auf der grünen Welle durch die Metropole. Und am Hauptbahnhof kann der Drahtesel in einem eigenen Parkhaus mit 4.500 Stellplätzen sicher – und in den ersten 24 Stunden kostenlos – verstaut werden. Aktuell wird es erweitert und soll nach der Fertigstellung sogar 12.500 Räder beherbergen. Ein Angebot, das Utrecht auf Platz zwei der fahrradfreundlichsten Städte der Welt katapultiert hat – knapp hinter dem Fahrradmekka Kopenhagen.
Deutsche Städte sind zwar noch immer deutlich von dänischen oder niederländischen Verhältnissen entfernt, doch die Beliebtheit des Fahrrads wächst 200 Jahre nach seiner Erfindung auch hierzulande – in der Bevölkerung wie in der Politik. Pendler radeln zur Arbeit, Lastenräder für den Transport von Kind, Kegel oder Einkauf sind zumindest in den Städten längst keine exotische Ausnahme mehr. Nicht nur unter Studenten löst das Rad zunehmend das Auto als Statussymbol ab. Und immer mehr Kommunen und Städte, aber auch Landesregierungen schreiben sich die Förderung des Radverkehrs auf ihre Fahnen, um Verkehrs- und Abgasprobleme in den Griff zu bekommen. Verkehrspolitisch liegt das auf der Hand, denn Fahrräder produzieren weder Abgase noch Lärm und schonen so nicht nur die Umwelt, sondern auch die Gesundheit und das Nervenkostüm der Menschen. Zudem braucht das Rad erheblich weniger Platz – und der ist in dicht bebauten und von Stau geplagten Städten ein kostbares Gut. „Das Fahrrad ist das flächeneffizienteste Verkehrsmittel, das wir haben“, betont der Verkehrswissenschaftler Martin Randelhoff. Auf einem einzigen Parkplatz lassen sich acht bis zehn Fahrräder unterbringen, rechnet der Mobilitätsexperte vor. „Und im fließenden Verkehr kann man über eine Straße gleicher Breite 14.000 statt 2.000 Menschen pro Stunde je Richtung transportieren.“
„Das Fahrrad ist das flächeneffizienteste Verkehrsmittel, das wir haben.“
Eine enorme Entlastung für verstopfte Städte – und ein Platzgewinn, der beispielsweise für mehr Spielstraßen und Grünflächen genutzt werden kann. Das steigert die Lebensqualität der Bewohner und verbessert das städtische Klima. „Weniger Bodenversiegelung führt dazu, dass etwa Starkregen besser abgeleitet wird und auch das Mikroklima – also die Temperatur in der Stadt – besser reguliert werden kann“, erklärt Randelhoff.
Radfahrer tun dabei nicht nur etwas für die Umwelt und die eigene Gesundheit. „Mit dem Fahrrad bin ich flexibler und komme dichter an mein Ziel als mit dem Pkw“, so Randelhoff. 40 bis 50 Prozent aller Strecken, die in deutschen Großstädten mit dem Auto zurückgelegt werden, sind kürzer als fünf Kilometer, ergab eine Studie. Eine solche Entfernung kann auf zwei Rädern so schnell bewältigt werden wie mit keinem anderen Verkehrsmittel. Schließlich spart man sich den Weg zur Haltestelle oder zum Auto und kann meist bis vor die Haustür fahren, statt minutenlang auf der Suche nach einem Parkplatz durch das Quartier zu kurven und den Verkehr zu blockieren.
Aber auch auf längeren Strecken könnte das Fahrrad zukünftig zum Haupttransportmittel werden: Radschnellwege wie der in Teilstücken schon eröffnete RS1 zwischen Duisburg und Hamm sollen Pendler fernab vom Autoverkehr sicher und schnell ans Ziel bringen – ob durch pure Muskelkraft oder mit der elektrischen Unterstützung der boomenden E-Bikes. Nach seiner Fertigstellung könnte der Fahrrad-Highway durch das Ruhrgebiet den Straßenverkehr laut einer Machbarkeitsstudie täglich um bis zu 52.000 Autofahrten und 400.000 Fahrkilometer entlasten. 16.600 Tonnen CO2 würden so jährlich eingespart. Möglich machen soll das auch die wachsende Beliebtheit der Elektroräder. Denn mit elektrischer Trethilfe könnten auch weniger trainierte Radler Distanzen von 15 Kilometern und mehr bewältigen, ohne ins Schwitzen zu kommen oder einen Kraftverlust zu fürchten. Da der durchschnittliche Pendler 16,8 Kilometer unterwegs ist, kann das E-Bike hier zur echten Alternative werden. Pendlern mit längerem Arbeitsweg soll eine direkte Anbindung der Radschnellwege an Nah- und Fernverkehr einen bequemen Umstieg in die Bahn ermöglichen. Und je mehr Menschen mit dem Rad in die Stadt fahren, desto besser fließt dort der Verkehr und desto geringer ist der Kampf um den begrenzten Parkraum. Genau an dieser Idee finden immer mehr Landesregierungen Gefallen. Allein in Baden-Württemberg sollen bis 2025 zehn solcher Radschnellwege entstehen.
Die Kosten für die 101 Kilometer des RS1 belaufen sich auf 184 Millionen Euro. Rund die Hälfte davon entfällt auf Brücken und Unterführungen, die die Radler kreuzungsfrei am Autoverkehr vorbeileiten. Das klingt zunächst nach einer hohen Summe, ist im Vergleich mit dem Bau einer Autobahn jedoch ein verschwindend geringer Betrag. Hier kostet der Kilometer zwischen 6 und 20 Millionen, kann in besonderen Fällen aber sogar bis zu 163 Millionen Euro verschlingen.
Tatsächlich soll die Investition in Radschnellwege Geld sparen, da sie Unfallschäden, Krankheitstage und Betriebskosten für Mobilität potenziell vermindern. Bestenfalls soll der RS1 gesamtwirtschaftlich den fünffachen Wert seiner Kosten einbringen, kalkulieren die Autoren der Machbarkeitsstudie. Und ganz nebenbei soll er Menschen ohne Auto neue Mobilitätsoptionen eröffnen.
Auch Forscher der Universität Lund kommen zu dem Ergebnis, dass der Radverkehr Geld spart – und das nicht nur zum Vorteil des einzelnen Verkehrsteilnehmers. Jeder Kilometer mit dem Auto kostet ihrer Rechnung zufolge Fahrer und Gesellschaft 0,50 Euro. Das ist sechsmal mehr als beim Fahrrad, bei dem der Kilometer mit 0,08 Euro zu Buche schlägt. Konzentriert man sich allein auf die Kosten für die Gesellschaft, liegt der Autokilometer bei 0,15 Euro. Das Rad fährt dagegen sogar einen Gewinn von 0,16 Euro pro Kilometer ein. Von diesem Gewinn profitiert die Gesellschaft in Form von positiven Auswirkungen unter anderem auf Gesundheit, Luft- und Lebensqualität.
Doch der beste Radschnellweg nützt wenig, wenn das Radwegenetz in den Städten zu wünschen übrig lässt. Gerade hier besteht noch erheblicher Nachholbedarf, so Martin Randelhoff. „Die Radinfrastruktur in deutschen Städten ist oft veraltet und meistens Stückwerk“, sagt der Mobilitätsforscher. Radwege, die plötzlich an einem Poller oder im fließenden Verkehr enden, durch die Wurzeln angrenzender Bäume zur Buckelpiste werden und im Winter gar nicht oder erst spät geräumt werden, sind vielerorts eher die Regel als die Ausnahme. Beim Fahrradklimatest des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) für 2016 erhielten 539 deutsche Städte die Durchschnittsnote 3,8. Selbst Spitzenreiter und Fahrradstädte wie Münster, Karlsruhe oder Freiburg kamen nicht über eine Drei hinaus.
„Das große Problem besteht darin, dass unsere Infrastruktur meist nicht zur Nutzung einlädt.“
„Das große Problem besteht darin, dass unsere Infrastruktur meist nicht zur Nutzung einlädt. Eben weil sie Stückwerk ist oder selten in der Qualität gebaut wurde, um das subjektive Sicherheitsgefühl der verschiedenen Nutzergruppen zu decken“, stellt Randelhoff fest. Innerorts sollten Radwege mit einer Mindestbreite von zwei Metern gebaut werden, bei stark frequentierten Strecken wären drei Meter das ideale Maß. „Damit man da auch mit dem Lastenrad oder einem Anhänger fahren kann und sicheres Überholen möglich ist“, erklärt der Experte. Auf den bisherigen Radwegen von meist maximal anderthalb Metern Breite sorgt schließlich bereits jede Kinderkutsche für einen Stau. Breitere Fahrradwege kämen hingegen neben dem Personen- auch dem Lastenverkehr zugute: In Berlin testen einige Paketdienste seit Ende Mai 2018 in einem gemeinsamen Pilotprojekt, ob ein Lastenrad den herkömmlichen Transporter ersetzen kann.
Mehr Platz, mehr Geld, mehr Priorität und mehr Planungsstellen für den Radverkehr – das fordert der ADFC. Nötig seien Pro-Kopf-Investitionen von 30 Euro pro Jahr, wie sie etwa in Amsterdam, Kopenhagen oder Utrecht längst Standard sind. „In Deutschland liegen wir fast überall deutlich unter fünf Euro und malen schmale Streifen auf die Straße“, berichtet ADFC-Bundesgeschäftsführer Burkhard Stork. Um für mehr Sicherheit im Radverkehr zu sorgen, sollte auch Falschparken auf Radwegen stärker geahndet werden, meint Martin Randelhoff. „Es bringt ja nichts, eine Radinfrastruktur zu bauen, die dann nicht benutzbar und dabei gefährdend ist, weil man als Fahrradfahrer in den fließenden Verkehr ausweichen muss.“ Der Verkehrswissenschaftler plädiert deshalb für höhere Bußgelder auf Bundesebene und eine verstärkte Pflicht, Falschparker abzuschleppen.
Auf den hinteren Plätzen des Fahrradklimatests landete Berlin: Mit einer Note von 4,34 erreichte die Hauptstadt Platz 36 – nur Köln, Mönchengladbach und Wiesbaden schnitten schlechter ab. Doch nun wurde Besserung gelobt. Angeschoben von der Initiative „Volksentscheid Fahrrad“ hat Berlin als erste Stadt Deutschlands ein Radverkehrsgesetz auf den Weg gebracht. Neben 100.000 Stellplätzen und 100 Kilometern Radschnellweg sollen auf den Hauptverkehrsstraßen von den Fahrbahnen für Autos abgetrennte Radspuren entstehen, wie sie etwa in Kopenhagen seit Jahren gang und gäbe sind. Gefährliche Knotenpunkte und Kreuzungen sollen umgestaltet und an Bahnhöfen Fahrradparkhäuser und Radstationen gebaut werden. Auf einem sogenannten Vorrangnetz aus besonders wichtigen Routen für den Radverkehr sollen Radler Vorrang vor dem motorisierten Individualverkehr bekommen. Dabei soll auch die Möglichkeit einer grünen Welle für Radfahrer geprüft werden.
Bis 2025 will die Stadt den bisherigen Radverkehrsanteil von 13 Prozent steigern: in der Umweltzone auf 30, in ganz Berlin auf 20 Prozent. Kopenhagen und Amsterdam peilen schon die 50-Prozent-Quote für den Radverkehr an, die deutsche Fahrradstadt Freiburg einen Anteil von 40 Prozent. Dafür schließt Berlin allmählich bei den Pro-Kopf-Investitionen zur Liga der fahrradfreundlichen europäischen Großstädte auf. 50 Millionen Euro jährlich will die Stadt über die kommenden vier Jahre in den Radverkehr investieren – also rund 14 Euro pro Bürger. 2015 waren es gerade mal 15 Millionen Euro. Pro Bezirk sollen sich zwei Mitarbeiter ausschließlich um den Radverkehr kümmern, damit die Investitionen auch wirklich ausgegeben werden, was in der Vergangenheit an der dünnen Personaldecke scheiterte. „In der Breite und in der Tiefe deckt der Gesetzesentwurf die Bedürfnisse des Radverkehrs sehr gut ab“, sagt Mobilitätsexperte Randelhoff. „Wichtig ist aber, dass die Pläne dann auch tatsächlich so umgesetzt werden. Denn die besten Ziele taugen nichts, wenn man sie nicht umsetzt.“
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ZUR PERSON
© Martin Randelhoff
Martin Randelhoff studierte Verkehrswissenschaften an der TU Dresden und Raumplanung an der TU Dortmund. Seit 2010 betreibt er das Blog „Zukunft Mobilität“. Hier beschäftigt er sich mit neuen Mobilitätskonzepten und der Planung von Verkehr und Infrastruktur. Zudem berät er Unternehmen, Organisationen und Kommunen in den Bereichen Elektromobilität, nachhaltiger Verkehr sowie Entwicklungen in der Mobilität und im ÖPNV. 2012 wurde sein Blog mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet.