18. Oktober 2018
Wer sich auf dem Land kein Auto leisten kann oder zu jung oder zu alt zum Fahren ist, der hat ein Problem. Denn der öffentliche Nahverkehr fährt meist selten und auch nicht überall hin. Kommunen und Verkehrsbetriebe experimentieren deshalb mit unterschiedlichen Ansätzen, um auch Menschen ohne eigenes Auto an ihr Ziel zu bringen.
Mit der U-Bahn, dem Fahrrad oder einem Sharing-Elektroroller zur Arbeit, mit dem Carsharing-Auto zum Wochenendeinkauf oder sonntags ins Grüne: Stadtbewohner haben heute immer zahlreichere Möglichkeiten, um auch ohne eigenes Auto ihr Ziel zu erreichen. Völlig anders stellt sich die Situation auf dem Land dar: Wer hier kein Auto besitzt oder fahren kann, der hat es schwer. Denn der Bus fährt vielleicht zweimal am Tag in die 30 Kilometer entfernte Kreisstadt und orientiert seinen Takt an den Schulzeiten. Am Abend, am Wochenende und während der Schulferien ist die Verbindung zur Außenwelt quasi gekappt. Ein Problem, das sich mit dem demografischen Wandel verschärft. Immer mehr junge Menschen ziehen in die Städte, die älteren bleiben oft in der Provinz zurück.
Dabei wird der Mobilitätsbedarf der Landbevölkerung größer statt kleiner. Tante-Emma-Läden oder Gaststätten müssen schließen, Landärzte suchen nach Nachfolgern, Supermärkte, Banken, Post und Behörden konzentrieren sich längst auf die regionalen Zentren. Patentrezepte für die Mobilitätsprobleme auf dem Land gibt es nicht. „Dazu sind die Regionen und die Bedürfnisse ihrer Bewohner zu unterschiedlich“, sagt die Umweltwissenschaftlerin Melanie Herget, Expertin für Mobilität im ländlichen Raum am Innovationszentrum für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel (InnoZ) in Berlin. Um die Mobilität ihrer Bürger zu verbessern und die Landflucht zu bremsen, experimentieren die Kommunen deshalb mit unterschiedlichen Ansätzen – etwa mit einer Ergänzung oder der Umstellung des reinen Linienbetriebs auf einen bedarfsorientierten Nahverkehr. Statt sich an festen Abfahrtszeiten zu orientieren, können Bürger telefonisch einen „Rufbus“ bestellen. Dazu müssen sie bloß ihre Fahrt ein bis zwei Stunden vor Antritt bei einer Telefonzentrale des Verkehrsunternehmens anmelden. Spontane Abstecher zum örtlichen Supermarkt sind dadurch zwar nicht möglich, doch die bieten konventionelle Busverbindungen ebenso wenig.
Ein Bus bei Bedarf
Im Unterschied zum Linienbus steuert der Rufbus nur die Haltestellen an, für die sich jemand angemeldet hat – bei Bedarf allerdings auch solche, die normalerweise nicht abgedeckt werden. Oder er fährt durch Dörfer, in denen bislang gar kein Bus unterwegs war. Für die Kunden bedeutet das kürzere Wege zur Haltestelle oder überhaupt erst die Möglichkeit, den Arzt oder Supermarkt in der nächsten Kleinstadt ohne eigenes Auto zu erreichen. Für die Verkehrsbetriebe entstehen weniger Leerfahrten, weil tatsächlich nur die Fahrten stattfinden, die im Vorfeld angefordert wurden. Die Passagiere der Kleinbusse zahlen dafür den normalen Tarif mit einem kleinen Komfortzuschlag. Sie fahren also immer noch erheblich günstiger als mit dem Taxi.
Doch bis sich das Angebot in den Köpfen der Kunden verankert, dauert es eine Weile. Die Kommunen brauchen oft einen längeren Atem. Das Eifelstädtchen Wittlich etwa zog nach rund einjährigem Pilotbetrieb eine überwiegend positive Zwischenbilanz. Stiegen im Oktober 2016 noch 243 Fahrgäste in den Rufbus, der rund 70 Haltestellen in der Kreisstadt ansteuert, waren es im November 2017 schon 445 Fahrten. Bis das System ausgelastet ist und die Kommune ihre Zuzahlung von 20 Euro pro Fahrt reduzieren kann, muss die Nachfrage jedoch noch weiter steigen. Helfen soll dabei unter anderem die digitale Technik: Mittlerweile kann der „Wittlich-Shuttle“ auch per App geordert werden.
Flexibel per App unterwegs
Im niederbayrischen Ort Freyung geht man noch einen Schritt weiter. Der dort Anfang August 2018 gestartete Shuttleservice hört auf den Namen „freYfahrt“ und kommt komplett ohne Fahrplan und analoge Haltestellen aus. Hat man den Shuttle per Smartphone bestellt, wird man über die App zu einem von insgesamt 230 Haltepunkten navigiert. Diese virtuellen Haltestellen sollen nicht mehr als 200 Meter von der Haustür der Nutzer entfernt sein.
Betrieben wird freYfahrt von der Stadt Freyung und dem örtlichen Busunternehmen. Für die digitale Infrastruktur, die im Hintergrund intelligent die Routen der Fahrgäste bündelt, zeichnet das Berliner Start-up door2door verantwortlich. Angekündigt war die Probephase bereits für Herbst 2017, doch die rechtlichen Hürden erwiesen sich als höher, als es die Stadt im Vorfeld vermutete. Dass es oft so lange dauert, um innovative Verkehrslösungen auf die Straße zu bringen, selbst wenn sie von Kommunen im öffentlichen Interesse gewünscht werden, ist für Melanie Herget die Folge eines antiquierten Personenbeförderungsgesetzes. „Das stammt in weiten Teilen noch aus den 1930er-Jahren, also aus einer völlig anderen Welt“, so die Expertin vom InnoZ. Neue Angebote, die nicht in die festen Schubladen für Linienverkehr, Mietwagen oder Taxibetrieb passen, dürfen über eine Experimentierklausel maximal für vier Jahre getestet werden. Dann ist nach aktueller Rechtslage grundsätzlich Schluss – egal, ob der Test erfolgreich war. „Hier besteht Reformbedarf“, folgert Herget. Die Forderung der Umweltwissenschaftlerin: „Wir brauchen Freiräume zum Experimentieren. Und wenn diese Experimente sich anhand sozialer, ökologischer und wirtschaftlicher Kriterien als Erfolg erweisen, muss es möglich sein, sie in den Regelbetrieb zu überführen.“
Zukunftsperspektive „autonomer Busverkehr“
Das Rufbussystem im Landkreis Neumarkt in Bayern gilt schon jetzt als Erfolgsmodell. Seit 2011 kurvt der Bus hier durch 17 Gemeinden. 2015 kletterten die Fahrgastzahlen von 25.000 auf 28.000, und 2017 waren bereits rund 39.000 Mitfahrer an Bord. Große Hoffnungen setzten die Verkehrsplaner der Kommunen auf den nächsten Quantensprung der Technik. „Wenn es das autonome Fahren, also ohne Fahrer, gibt, dann kann man das Angebot ohne Mehrkosten noch erweitern“, sagt Michael Gottschalk, beim Landratsamt Neumarkt zuständig für die Kreisentwicklung, gegenüber der Zeitung Donaukurier.
Getestet werden solche Busse bereits etwa im bayrischen Bad Birnbach. Bis sie jedoch regulär und ohne Sicherheitsfahrer auf den Straßen unterwegs sind, müssen noch ethische und rechtliche Fragen geklärt werden, betont die Mobilitätsexpertin. Die Vorteile der Roboterbusse für die Mobilität im ländlichen Raum liegen für Herget auf der Hand. Der Lohn für die Fahrer macht mit 60 bis 70 Prozent schließlich den Löwenanteil der Kosten der Verkehrsbetreiber in ländlichen Regionen aus, so die Umweltwissenschaftlerin. Dadurch seien die meist kleineren Rufbusse prinzipiell kostspieliger als herkömmliche Linienbusse. Denn während in den Linienbussen ein Fahrer potenziell etwa 40 Fahrgäste transportieren kann, kommt in den kleinen Rufbus-Shuttles ein Fahrer auf neun Mitfahrende.
Comeback der Postkutsche
Um unrentable Busverbindungen besser auszulasten statt sie einzustellen, besinnen sich die Kommunen auf alte Ideen. „Zurück zur Postkutsche“ heißt das Prinzip der sogenannten Kombibusse. Wie einst die pferdebetriebenen Multifunktionsfahrzeuge bringen Kombibusse neben Menschen auch Waren ans Ziel. In Flächenländern wie Finnland sind die Mehrzweckgefährte seit Jahrzehnten erfolgreich im Einsatz. Seit 2012 sind auch in der spärlich besiedelten Uckermark Kombibusse im Linienbetrieb unterwegs. Sie versorgen etwa Hofläden und Gaststätten mit den Produkten einer regionalen Käserei oder Handwerker mit Material in kleinen Mengen, die sich für klassische Transportunternehmen nicht rechnen. Anders als in Skandinavien kommen hier allerdings keine Kreuzungen aus Bus und Lkw zum Einsatz. Schließlich verfügen auch die im Linienbetrieb eingesetzten Überlandbusse über ausreichend Stauraum. Von skandinavischen Verhältnissen ist man allerdings noch weit entfernt. Dort steuert die Warenbeförderung bis zu 25 Prozent zum Umsatz bei. Die Kombibusse der Uckermark lägen dagegen bislang bei deutlich unter einem Prozent Umsatzanteil, erklärt der Geschäftsführer der Uckermärkischen Verkehrsgesellschaft (UVG) Lars Boehme in der Mittelbayrischen Zeitung. Das Modell wachse stetig, aber langsam. Zählten zu den Kunden bislang vor allem gewerbliche Abnehmer, können sich seit September 2018 auch Bürger mit Lebensmittelboxen beliefern lassen – potenziell sogar bis vor die eigene Haustür.
Wenn die Menschen nicht mehr zum Supermarkt fahren können, kommt der Supermarkt eben zu den Menschen: Nach diesem Prinzip versuchen auch andere Projekte, Initiativen und Anbieter, den Bedarf der Bevölkerung vor Ort mit mobilen Angeboten zu decken: von der rollenden Arztpraxis in Hessen über Kinos auf Rädern in der Uckermark oder Baden-Württemberg bis zur fahrbaren Bankfiliale in Sachsen. Die Post hat unlängst das Pilotprojekt „Meine Landpost“ gestartet: Als mobiler Tante-Emma-Laden soll das Service-Mobil die Bewohner zweier Gemeinden in Bayern und Baden-Württemberg sowohl mit Päckchen und Briefmarken als auch mit Hautcreme, Obst oder Erbseneintopf versorgen. Gerade älteren Landbewohnern kommen solche rollenden Angebote entgegen. Vollständig ersetzen können sie stationäre Arztpraxen oder Supermärkte aber natürlich nicht.
Linienverkehr reloaded
Auch deshalb steht und fällt für Melanie Herget die Mobilität auf dem Land mit einem Ausbau des klassischen Linienverkehrs. Dazu müssten der Busverkehr und seine Finanzierung stärker vom Schülerverkehr abgekoppelt werden. Der wird vom Bund bezuschusst und macht mit 70 bis 80 Prozent den größten Teil des öffentlichen Verkehrs auf dem Land aus. Das Resultat sind geringe Takte und Linienverläufe, die oftmals kaum zu den Bedürfnissen der restlichen Bevölkerung passen. Schließlich kurven die Busse auf ihrem Weg in die nächste Kreisstadt über die entlegensten Dörfer, um dort auch den letzten Schüler einzusammeln. „Das führt zu extrem hohen Reisezeiten, die den Busverkehr für alle anderen Nutzer unattraktiv machen“, erklärt Herget. Deshalb gelte es, ihn an den Hauptbewegungsrouten der Menschen einer Region zu orientieren. „Auf diesen Routen müssen wir dann einen regelmäßigen Takt etablieren. Und zwar mindestens einmal stündlich, denn das ist das, was die Menschen sich merken können.“
Das Problem: Öffentlicher Verkehr ist bislang Aufgabe der Kommunen und Landkreise. Und die können sich ein dichtes Liniennetz meist schlicht nicht leisten – und auch rechtlich nicht über ihre Kreisgrenzen hinaus agieren. „Deshalb halte ich es für sehr wichtig, wenn die Bundesländer stärker in die Verantwortung gehen“, sagt die Umweltwissenschaftlerin vom InnoZ. Ansätze dazu sind da: In Sachsen-Anhalt, Niedersachsen und Baden-Württemberg werden landkreisübergreifende Buslinien von den Ländern gefördert. Auch Thüringen hat 2017 damit begonnen, solche „landesbedeutenden“ Busverbindungen zu etablieren. 14 Verbindungen wurden mittlerweile bewilligt, weitere sollen folgen. Sie sollen die Lücke zwischen regionalen Zentren schließen, die nicht über eine direkte Zugverbindung verfügen. Durch die hohen Takte und das zügige Tempo der Busse sollen zudem Autofahrer dazu bewegt werden, ihren Wagen einmal stehen zu lassen.
Rentabilität darf dabei nicht der einzige Faktor sein, um Investitionen für den Nahverkehr auf dem Land zu bewerten, meint Herget. „Ohne Mobilität wandern die Menschen ab – und jede Person, die aus einer Region abwandert, erzeugt viel höhere Kosten, als wenn man sich tatsächlich dazu entschließt, Geld für Mobilitätslösungen in die Hand zu nehmen.“
Lesen Sie im zweiten Teil unserer Miniserie, wie Bürger mit Bürgerbussen oder Mitfahrbänken für mehr Mobilität sorgen können.
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ZUR PERSON
© Melanie Herget
Melanie Herget ist Umweltwissenschaftlerin und Expertin für Mobilität in ländlichen Räumen am Innovationszentrum für Mobilität und gesellschaftlichen Wandel (InnoZ) in Berlin.