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Raumfahrt

Aufräumaktion im All

27. Januar 2020

Abertausende Trümmerteile, ausgemusterte Satelliten oder Teile von Raketenstufen zirkulieren heute um die Erde – eine wachsende Gefahr für aktuelle und für künftige Missionen im All. Die europäische Weltraumagentur ESA will nun über unseren Köpfen für mehr Ordnung sorgen und hat ein Schweizer Unternehmen mit der ersten Aufräumaktion im Orbit betraut.

Menschen machen Müll – und zwar überall, wo sie unterwegs sind. Die Reste unserer technischen Erzeugnisse sind meist hartnäckig und werden eher ausnahmsweise von der Witterung oder fleißigen Mikroorganismen in ihre Bestandteile zerlegt. Das gilt an Land, zu Wasser und auch im Weltall: Seit die Sowjetunion 1957 mit dem Sputnik die Weltbevölkerung in Wallung brachte, sind über 5.500 Missionen ins All gestartet. Übrig geblieben sind rund 8.500 Tonnen Schrott: Ausgediente Raketenstufen, ausgemusterte Satelliten und Abertausende Trümmerteile, entstanden durch Explosionen und Kollisionen, zirkulieren um unseren Planeten.

2009 stießen 800 Kilometer über Sibirien der US-Satellit Iridium 33 und die ausgemusterte russische Sonde Kosmos-2251 unsanft zusammen. Die Kollision hinterließ eine Trümmerwolke aus 100.000 Bruchstücken, davon über 2.200 mehr als zehn Zentimeter große Fragmente. 23.000 Objekte dieser Größe sind aktuell bekannt, darunter 5.000 Trümmerteile, die einen Meter messen. Hinzu kommen über 750.000 Teile, die größer als einen Zentimeter sind – und schätzungsweise 170 Millionen über einen Millimeter große Fragmente.

Aufprall mit 56.000 Stundenkilometern

Gefährlich sind sie alle: Schon kleinste Trümmerteilchen können bei einem Tempo von bis zu 56.000 Kilometern pro Stunde Sensoren, die Energieversorgung und das Kommunikationssystem von Satelliten beschädigen. Ein Trümmerteil, das mehr als einen Zentimeter misst, entfaltet beim Aufprall die Energie einer Handgranate – genug, um den Satelliten in den ungeplanten Ruhestand zu schicken. Ab einer Größe von zehn Zentimetern kann ein aufprallendes Schrottstück Satelliten oder Raketenstufen vollständig zerlegen, wobei Hunderte bis Tausende neue Trümmerteile entstehen.

Die meisten Bruchstücke umkreisen die Erde in einer Höhe von 800 bis 1.000 Kilometern. Viele sind auch auf rund 1.400 Kilometern unterwegs. Darüber wird es erst einmal deutlich leerer, ab 20.000 Kilometern aber wieder deutlich voller. Hier bedrohen die Objekte Navigationssatelliten, die aus dem All dafür sorgen, dass wir auf der Erde unsere Ziele erreichen. Das nächste größere Müllaufkommen zirkuliert in einer Höhe von etwa 36.000 Kilometern, wo es unseren TV- und Telekommunikationssatelliten gefährlich wird.

Müll-Monitoring gegen den Kollisionskurs

Um kostspielige Kollisionen zu verhindern, werden alle größeren Schrottteilchen mit Maßen um zehn Zentimeter von den Observatorien der Weltraumagenturen NASA, ESA oder der chinesischen CNAS verfolgt. Anfang dieses Jahres soll bei Koblenz die erste deutsche Radaranlage zum Müll-Monitoring ihren Betrieb aufnehmen, die auch kleinere Teile erfassen kann.

Wird ein Kollisionskurs mit der internationalen Raumstation ISS oder einem Satelliten erkannt, kann frühzeitig ein Ausweichmanöver eingeleitet werden. Mehrmals im Jahr müssen die ESA-Satelliten und die ISS Manöver fliegen, um dem rasanten Schrott zu entgehen. Da die ISS ohnehin regelmäßig auf eine etwas höhere Umlaufbahn zurückgebracht werden muss, kostet das immerhin keinen zusätzlichen Treibstoff.

Mit dem Satelliten-Boom wächst die Gefahr

Das Müllproblem im Orbit ist seit Langem als Kessler-Syndrom bekannt. Der namensgebende US-Astronom Donald J. Kessler warnte bereits 1978 vor der ständigen Zunahme kleiner Objekte im Weltraum durch zufällige Kollisionen und dem damit verbundenen Risiko für die Raumfahrt. Eine Gefahr, die heute mit dem zunehmenden Verkehr im All von Jahr zu Jahr immer größer wird.

Aktuell gibt es fast 2.800 aktive und mehr als 3.000 ausgefallene Satelliten im Weltraum – Tendenz stark steigend. Unternehmen wie SpaceX oder OneWeb schießen Konstellationen von Hunderten Satelliten ins All, um schnelles Internet von oben anzubieten. Bis 2027 will SpaceX fast 12.000 seiner Starlink-Satelliten in den erdnahen Orbit bringen. Aus Sicht von Experten dürften diese Megakonstellationen die Raumfahrt vor gewaltige Herausforderungen stellen und jährlich Hunderte Ausweichmanöver anderer Satelliten erzwingen.

 

Extraterrestrisches Aufräumkommando

Ohnehin ist Müllvermeidung wohl kaum genug, um das bestehende Abfallproblem in den Griff zu bekommen. Studien von ESA und NASA zeigen, dass sich die Situation im erdnahen Orbit zwischen 600 und 1.000 Kilometern Höhe entschärfen ließe, wenn jährlich zumindest fünf bis zehn größere und besonders gefährliche Trümmerteile entfernt würden. In diesem Sinne hat die ESA nun ein Industriekonsortium unter der Leitung des Schweizer Start-ups ClearSpace mit einer bislang einzigartigen Dienstleistung betraut: Erstmals sollen sie ein Stück Weltraumschrott aktiv aus der Erdumlaufbahn herausholen.

ClearSpace-1 soll 2025 starten, um einen sogenannten Vespa (Vega Secondary Payload Adapter) einzusammeln. Dieses Objekt wurde nach dem zweiten Flug der europäischen Trägerrakete Vega im Jahr 2013 gemäß den Vorschriften zum Abbau von Weltraummüll in einer für die Entsorgung vorgesehenen Erdumlaufbahn zwischen etwa 800 und 660 Kilometer Höhe zurückgelassen. Als fliegender Abschleppwagen soll ClearSpace-1 das Vespa-Teil hier mit seinen großen Roboterarmen einfangen, anschließend mit ihm zusammen in die Erdatmosphäre eintreten und dabei verglühen.

 

Abschleppsatellit auf Selbstmordmission

Mit einer Masse von 112 Kilogramm ist Vespa in etwa so groß wie ein Kleinsatellit und gilt aufgrund seiner relativ einfachen Form und robusten Konstruktion als gutes erstes Zielobjekt. Folgemissionen sollen dann größere und kompliziertere Beseitigungen durchführen und schließlich auch mehrere Schrottteile auf einmal entsorgen können.

Wer beim Stichwort Start-up nun an Jungunternehmer mit steilen Ideen, aber wenig Erfahrung denkt, liegt in diesem Fall daneben: ClearSpace ist eine Ausgründung der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Lausanne (EPFL). Die Beseitigung von Weltraumschrott beschäftigt die dortigen Wissenschaftler bereits geraume Zeit. Seit 2010 arbeiten die Forscher am Projekt CleanSpace One. Anfang 2018 wurde ClearSpace gegründet, um das Projekt in die Praxis zu bringen – aus CleanSpace One wurde ClearSpace-1.

Heikler Erstkontakt

Aufschluss darüber, wo sich der Schrott im Orbit befindet, gibt der extraterrestrischen Aufräumtruppe eine Datenbank, die mit Koordinaten aus der Radarüberwachung gefüttert wird. Die Angaben haben eine Genauigkeit von zwei bis drei Kilometern. Die exakte Position der Objekte muss der Satellit dann selber finden und diese schließlich für den Abbremsvorgang ergreifen.

Das sei eine der größten Herausforderungen der Mission, so Luc Piguet, einer der beiden Chefs von ClearSpace. Da es keine Anziehungskraft gibt, bestehe zwischen den Objekten auch kein Reibungswiderstand. „Eine ganz kleine Berührung kann große Bewegungen auslösen. Und wenn das Objekt in Bewegung ist, wird es kompliziert, es überhaupt anzufassen“, so der Elektroingenieur gegenüber der Tagesschau. Das anschließende Verglühen in der Erdatmosphäre sei dagegen recht problemlos, da neuere Satelliten so konstruiert sind, dass sie sich unter der Einwirkung extremer Hitze möglichst rückstandsfrei zerlegen.

Zukunftsmarkt Allmüllabfuhr?

86 Millionen Euro lässt sich die ESA die Aufräumaktion kosten. Wenn alles glattgeht, könnte sie aber ein Multi-Milliarden-Geschäft in Gang setzen, hoffen alle Beteiligten. „Das Beispiel wird Schule machen“, zeigte sich Jan Wörner, der Generaldirektor der ESA, gegenüber der dpa  überzeugt. Die Beseitigung von Weltraumschrott ist für den ESA-Chef ein Zukunftsmarkt. Das Weltall sei eine Infrastruktur, die täglich für eine Vielzahl von Anwendungen genutzt werde. Diese Infrastruktur zu schützen sei ein großer Wert.

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