Viele Arbeitnehmende leiden unter psychischen Gefährdungen am Arbeitsplatz
Rund 28 Prozent aller Erwachsenen in Deutschland leiden unter einer psychischen Erkrankung. Dies stellt nicht nur für die Betroffenen und ihre Angehörigen eine hohe Belastung dar, es wirkt sich auch auf die Wirtschaft aus. 17 Prozent aller Arbeitsunfähigkeitstage gingen 2020 auf psychische Erkrankungen zurück. Die durchschnittliche Krankschreibung bei psychischen Erkrankungen betrug 2021 43 Tage, und bei 42 Prozent der frühzeitig Verrenteten waren psychische Gründe ausschlaggebend für den frühen Ruhestand.
„Keine Kleinigkeit“, kommentiert MEDITÜV-Psychologin Tiana-Christin Schuck, „man spricht nur nicht so viel darüber.“ Dabei ist darüber sprechen ein wichtiger erster Schritt, um das Problem in den Griff zu bekommen. Und auch sonst können Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sowie Führungskräfte einiges tun, um die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz zu fördern.
Der Job trägt oft zur Entstehung psychischer Erkrankungen bei
Die moderne Arbeitswelt spielt in vielen Fällen eine Schlüsselrolle in der Entstehung von Burn-out, Angsterkrankungen und Depressionen. Die hohe Arbeitsbelastung und zunehmende Veränderung erzeugen bei vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern chronischen Stress. Verstärkt wird dieser durch äußere Ereignisse wie die Corona-Pandemie oder den Krieg in der Ukraine. So entsteht Unsicherheit, ein Nährboden für psychische Krankheiten.
Gut zu wissen: Ob psychische Erkrankungen in der jüngsten Vergangenheit so stark angestiegen sind, wie es Zahlen nahelegen, ist umstritten. Tiana-Christin Schuck tendiert eher dazu, dass in erster Linie ein veränderter Umgang mit dem Thema für den zahlenmäßig sichtbaren Anstieg verantwortlich ist. So würden Ärztinnen und Ärzte bei chronischer Müdigkeit, Schlafstörungen oder Schmerzen heute öfter als früher psychische Ursachen in Erwägung ziehen.
Das müssen Arbeitgebende und Führungskräfte tun: Pflichten im Überblick
Sich um die psychische Gesundheit von Arbeitnehmenden zu kümmern, ist keine Sache des freiwilligen Engagements. Sowohl Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber als auch Führungskräfte sind dazu gesetzlich verpflichtet.
Die Gefährdungsbeurteilung psychische Belastung
Seit 2015 ist im § 5 Arbeitsschutzgesetz die Pflicht verankert, eine Gefährdungsbeurteilung für psychische Belastungen durchzuführen.
Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber müssen psychische Gefährdungen am Arbeitsplatz ermitteln und Gegenmaßnahmen einleiten. Dabei spielen Faktoren wie die Arbeitszeit und -intensität, aber auch soziale Beziehungen und Umgebungsfaktoren wie Lärm und Klima wichtige Rollen.
Bei der Erstellung gehen Sie als verantwortliche Person in mehreren Schritten vor:
- Legen Sie die Bereiche und Tätigkeiten fest, für die Sie die Beurteilung durchführen wollen.
- Ermitteln Sie die psychische Belastung mithilfe geeigneter und wissenschaftlich fundierter Instrumente.
- Beurteilen Sie die Belastung gemäß der Instrumentvorgaben.
- Entwickeln Sie, falls notwendig, geeignete Maßnahmen und setzen Sie sie um.
- Kontrollieren Sie die Wirksamkeit der Maßnahmen.
- Aktualisieren Sie die Gefährdungsbeurteilung, wenn sich die Arbeitsbedingungen ändern.
- Dokumentieren Sie die Ergebnisse.
Wichtig: „Eine Gefährdungsbeurteilung erstellen und eine gute Gefährdungsbeurteilung erstellen sind zwei Paar Schuhe“, mahnt Tiana-Christin Schuck. So sei zum Beispiel eine hochwertige Prüfung mit geeigneten Analyse-Instrumenten wie dem DYNAMIK 4.0-Fragebogen oder der Prüfliste Psychische Belastung notwendig. Diese Anforderung lösen Unternehmen in der Realität selten ein.
Die Fürsorgepflicht von Führungskräften
Was viele nicht wissen: Führungskräfte haben eine Fürsorgepflicht gegenüber Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die das Thema psychisches Wohlbefinden einschließt. Das bedeutet, dass sich Führungskräfte bemühen müssen, potenzielle Schadensquellen für die psychische Gesundheit von Mitarbeitenden zu erkennen und gegenzusteuern.
Keine leichte Aufgabe, aber eine, deren Bewältigung sich lernen lässt.
DIN EN ISO 10075 und ISO 45003 – Normen zur Orientierung
Um psychische Gefährdungen am Arbeitsplatz zu ermitteln und richtig darauf zu reagieren, können sich Verantwortliche an zwei Normen orientieren:
- Die DIN EN ISO 10075 definiert grundlegende Begriffe und Konzepte im Zusammenhang mit psychischer Arbeitsbelastung. Zusätzlich behandelt sie konkrete Maßnahmen, mit denen sich diese Belastung vermeiden oder zumindest verringern lässt.
- Bei der ISO 45003 handelt es sich um einen globalen Leitfaden zum Umgang mit psychosozialen Risiken. Er richtet sich an ISO-45001-zertifizierte Unternehmen, eignet sich aber auch als unabhängige Orientierungshilfe. Auch hier finden Verantwortliche konkrete Anregungen, wie sie erfolgreich mit Gefährdungen umgehen.
Stress wahrnehmen und richtig reagieren: Tipps für Führungskräfte
Tiana-Christin Schuck empfiehlt Führungskräften, folgende Maßnahmen gegen psychische Belastung zu ergreifen:
Im Kontakt bleiben: „Warnsignale kann man nur abschätzen, wenn man eine Veränderung wahrnimmt. Um eine Veränderung zu erkennen, muss ich meine Leute kennen und muss zu ihnen regelmäßig Kontakt haben.“ Deshalb sei es in Zeiten, in denen viele ortsflexibel arbeiten, wichtig, sich regelmäßig virtuell oder per Telefon auszutauschen und in Online-Gesprächen die Kamera anzuschalten.
Auf Veränderungen achten: Menschen sind verschieden. Jede:r reagiere anders auf Stress. Dennoch gebe es Warnzeichen, die sich als erkennbare Veränderungen im Verhalten zeigen. Dazu gehöre, wenn Arbeitnehmende sehr nervös seien, ständig sarkastische Bemerkungen machten oder zu weinen anfingen. Oder wenn die Arbeitsqualität nachließe oder Konflikte an der Tagesordnung seien.
Ansprechen: Nehmen Führungskräfte Veränderungen wahr, sollten sie die betroffenen Personen in einem persönlichen Gespräch darauf ansprechen. Dabei sei es entscheidend, sensibel und wertschätzend zu kommunizieren und auf Bewertungen, Interpretationen und vorschnelle Vorschläge zu verzichten. „Drücken Sie lieber Ihre Beobachtung aus und stellen Sie offene Fragen wie etwa: ‚Was ist los?‘“.
Geeignete Maßnahmen gegen psychische Belastungen ergreifen: Welche Möglichkeiten Führungskräfte hätten, hänge nicht zuletzt von den Ursachen für die psychische Überlastung ab. Machtlos seien sie in der Regel nicht. „Ich habe es noch nie erlebt, dass man gar nichts machen konnte.“ Je nach der individuellen Situation biete es sich zum Beispiel an, Arbeitszeiten flexibler zu gestalten, Arbeitsaufgaben anders zu gestalten oder anders zu verteilen. Manchmal sei eine Konfliktmoderation im Team empfehlenswert.
Wichtig: Führungskräfte haben auch eine Fürsorgepflicht anderen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gegenüber. Deshalb sollten sie nicht nur fördern, sondern auch fordern.
Ein offener und sicherer Umgang miteinander ist der Schlüssel zur Resilienz
Tiana-Christin Schuck ist überzeugt: „Teams, die offen und verlässlich miteinander umgehen, sind die Teams, die sich schneller auf neue Situationen einstellen können.“ Ein solcher Umgang lasse sich lernen und er zahle sich auf vielen Ebenen aus, nicht zuletzt durch eine höhere Produktivität.
Darum sei es entscheidend für Führungskräfte, im Umgang mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz mitzudenken. „Wir haben nur eine Gesundheit. Körper, Psyche und Soziales lassen sich nicht voneinander trennen, sie wirken als Einheit zusammen.“
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