Arbeiten unter Spannung – wann es erlaubt ist und was Unternehmen dabei beachten müssen
Arbeiten unter Spannung (AuS) ist mit hohen Gefahren verbunden. Schon kleine Fehler können zu lebensgefährlichen Körperdurchströmungen oder Lichtbögen führen. Deshalb erlaubt der Gesetzgeber AuS nur in besonderen Fällen und unter Erfüllung bestimmter Voraussetzungen. Zum Beispiel brauchen Mitarbeitende für viele Arbeiten eine Spezialausbildung.
Wir haben uns mit Gerd Lehmann, Elektromeister im Handwerk, darüber unterhalten,
- wann Arbeiten unter Spannung erlaubt ist,
- warum AuS nicht gleich AuS ist und
- welche Anforderungen Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber oft unterschätzen.
Was bedeutet Arbeiten unter Spannung?
Von Arbeiten unter Spannung spricht man, wenn eine Person bewusst mit Körperteilen oder Gegenständen (zum Beispiel Ausrüstungen oder Werkzeugen) Teile berührt, die unter Spannung stehen, oder in die Gefahrenzone gelangt.
Die DIN VDE 0105-100 unterscheidet drei Arbeitsmethoden beim Arbeiten an beziehungsweise in der Nähe von elektrischen Betriebsmitteln.
- Arbeiten im spannungsfreien Zustand
- Arbeiten in der Nähe unter Spannung stehender Teile
- Arbeiten unter Spannung (AuS)
Während Ersteres der Idealfall ist, ist AuS die Ausnahme von der Regel, zumindest in der Theorie.
Wann ist Arbeiten unter Spannung erlaubt?
Laut § 8 DGUV Vorschrift 3 ist das Arbeiten an unter Spannung stehenden Teilen erlaubt, wenn...
Als zwingenden Grund können Unternehmen zum Beispiel anführen, dass
- es sonst zu Behinderungen oder Unterbrechungen des Bahnbetriebs kommen würde,
- beim Herstellen von Anschlüssen oder Auswechseln von defekten Betriebsmitteln Stromversorgungen unterbrochen würden, oder
- ein erheblicher wirtschaftlicher Schaden entstehen würde.
Oft ist laut Gerd Lehmann die Wirtschaftlichkeit ausschlaggebend dafür, dass in Betrieben unter Spannung gearbeitet wird, zum Beispiel wenn durch das Pausieren einer Anlage hohe Kosten entstehen.
Unabhängig vom Grund müssen Unternehmen hohe Sicherheitsanforderungen erfüllen. Das beginnt bei der Ausbildung der Personen, die unter Spannung arbeiten.
Wann ist eine Spezialausbildung erforderlich?
Das Arbeiten unter Spannung lässt sich in zwei Varianten unterteilen. Gerd Lehmann bezeichnet diese gerne als AuS light und AuS heavy. Der zentrale Unterschied besteht darin, welche Voraussetzungen Ausführende erfüllen müssen.
- In VDE 0105-100:2015-10, Abschnitt 6.3.1.1 sind Arbeiten unter Spannung definiert, die eine einfache elektrische Fachkraft ausführen darf. Dazu gehört zum Beispiel das Feststellen der Spannungsfreiheit, die Verwendung von Stromzangen oder die Fehlereingrenzung.
- Für alle anderen Tätigkeiten, bei denen Personen unter Spannung arbeiten, angefangen beim Auswechseln von Zählern über Wartungsarbeiten bis hin zum Überbrücken von Teilstromkreisen, ist eine Spezialausbildung erforderlich. Diese besteht aus einem theoretischen Teil und einer praktischen Ausbildung sowie jeweils einer Prüfung. Die DGUV Regel 103-011 empfiehlt, die Schulung alle 4 Jahre zu aktualisieren.
Zentrale Basis für AuS ist eine Gefährdungsbeurteilung
Neben der Tatsache, dass viele AuS-Arbeiten besonders ausgebildete Mitarbeitende erfordern, gibt es andere Anforderungen, die Unternehmen, so Gerd Lehmann, gerne einmal ignorieren.
Dazu gehört, dass eine umfassende Gefährdungsbeurteilung beim Arbeiten unter Spannung immer notwendig ist, unabhängig davon, ob Ausführende eine Spezialausbildung brauchen oder nicht. Darin müssen neben den Risiken eines elektrischen Schlags und einer Lichtbogenbildung auch andere Risiken, zum Beispiel durch das Herunterfallen von Teilen, bewertet werden. Denn AuS ist selbst bei zwingenden Gründen nur erlaubt, solange Sicherheit und Gesundheit der beteiligten Personen sichergestellt werden können.
Wenn die Arbeitgeberin oder der Arbeitgeber selbst keine Elektrofachkraft ist, delegiert sie oder er das Erstellen der Gefährdungsbeurteilung an eine verantwortliche Elektrofachkraft (VEFK). Damit wären wir beim nächsten Punkt:
AuS-Beauftragte und Arbeitsanweisung – weitere Voraussetzungen, um unter Spannung arbeiten zu dürfen
Betriebe, deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unter Spannung arbeiten, benötigen eine VEFK als AuS-Beauftragte beziehungsweise AuS-Beauftragten.
Gerd Lehmann macht regelmäßig die Erfahrung, dass diese Person fehlt. Die Konsequenz ist klar: „Wenn ein Betrieb keine VEFK hat, hat er keinen AuS-Beauftragten. Dann ist ein Arbeiten unter Spannung nicht erlaubt.“
Außerdem müssen Betriebe für Arbeiten unter Spannung Arbeitsanweisungen verfassen, die auf der Gefährdungsbeurteilung basieren. Sie enthalten zum Beispiel Aussagen über die notwendige Schutzausrüstung und Arbeitsabläufe sowie darüber, ob eine zweite Person anwesend sein muss. Große Konzerne kommen dieser Forderung in der Regel nach. Kleinere Unternehmen, beobachtet Gerd Lehmann, entscheiden sich oft für die zeitsparende Variante. Sie übernehmen vorgefertigte Muster und versehen diese mit ihrem Logo. Das kann Haftungsrisiken erhöhen, wenn ein Unfall geschieht.
Schließlich müssen Unternehmen für AuS ausreichend sicheres Werkzeug, Schutz- und Hilfsmittel bereitstellen, die idealerweise nach VDE geprüft worden sind. Isolierende Schutzkleidung muss regelmäßig geprüft werden.
Das Arbeiten an unter Spannung stehenden Teilen bringt ein hohes Risiko mit sich
Routine macht nachlässig. Nach wie vor werden die Gefahren, die von Elektrizität ausgehen, in vielen Betrieben unterschätzt. Dabei ist das Risiko von Unfällen beim Arbeiten unter Spannung besonders hoch. Dasselbe gilt für Haftungsrisiken, vor allem für die Arbeitgeberin oder den Arbeitgeber.
Spezialausbildungen für AuS sowie sorgfältig erstellte Gefährdungsbeurteilungen und Arbeitsanweisungen minimieren Risiken für alle Beteiligten. Damit sind sie nicht nur ein notwendiges Übel, sondern tragen zu einem sicheren und effektiven Arbeiten bei. Anders ausgedrückt: Der Aufwand lohnt sich.
Unsere Empfehlungen für Sie
Ihr Ansprechpartner
Geschäftsstelle Oldenburg
Im Technologiepark 6, 26129 Oldenburg
Tel.: +49 441 2197088-14
Fax: +49 441 2197088-22
hboecker@tuev-nord.de